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Jelzin wird sich weiter halten
Ein Referendum am 25. April soll über Präsident Boris Jelzins Reformen und über Parlamentswahlen in Rußland entscheiden. Der Haken: Die Hälfte der Wahlberechtigten, nicht der Wähler, muß dabei Neuwahlen wünschen. Der Volkskongreß hat also vorgesorgt. FURCHE-Mitarbeiter Peter Gosztony war dieser Tage in Moskau. Er meint, Jelzin wird sich halten.
Ein Referendum am 25. April soll über Präsident Boris Jelzins Reformen und über Parlamentswahlen in Rußland entscheiden. Der Haken: Die Hälfte der Wahlberechtigten, nicht der Wähler, muß dabei Neuwahlen wünschen. Der Volkskongreß hat also vorgesorgt. FURCHE-Mitarbeiter Peter Gosztony war dieser Tage in Moskau. Er meint, Jelzin wird sich halten.
„Jelzin verkörpert Rußland. Er hat wenigstens einen Plan für die Zukunft des Riesenreiches, die anderen haben nur große Mäuler." Mit diesen Worten beschreibt der aus Ungarn stammende, in der Schweiz lebende Militärhistoriker und Ostexperte Peter Gosztony die Situation in Rußland unmittelbar nach den schweren Auseinandersetzungen zwischen Volkskongreß und Präsidenten. In diesem Zusammenhang bewertet er die bevorstehende Zusammenkunft von Jelzin und US-Präsident Bill Clinton -am 4. April in Vancouver - als vorteilhaft für das weitere innenpolitische Schicksal Jelzins.
In der Moskauer Öffentlichkeit spielt der Machtkampf nach Ansicht Gosztonys nicht jene Rolle, wie es der westlichen Berichterstattung nach den Anschein haben könnte. Die Zehntausenden, die für Jelzin auf die Straße gehen, sind - gemessen an der Einwohnerzahl Moskaus (zehn Millionen) - eine vernachlässigbare Größe. Eine apathische Stimmung hat sich in Moskau breit gemacht. Man glaubt aber, daß es nach Jelzin nur noch schlechter werden kann.
Bei Gesprächen mit Armeeangehörigen - Oberste und Generäle werden nach wie vor bestens bezahlt, haben ihre eigenen Chauffeure, Luxuskarossen und leben in bewachten Bezirken („daher weinen sie der alten Zeit nicht nach") - konnte Gosztony keine Putschbereitschaft erkennen. „Die Armee geriert sich gewissermaßen als Wirtschaftskörper und -faktor und lebt ganz gut damit. Heute kann man in Moskau sogar eine ganze Division für etwa 13.000 Dollar mieten, Munition und Treibstoff inbegriffen", gibt Gosztony die Situation wider. Die Armee - mit vier Millionen Soldaten
- ist zweigeteilt: in die Armee der Russischen Föderation und in die GUS-Armee, die noch von Moskau erhalten wird.
Für einen Putsch ist die Armee nach Ansicht Gosztonys aus zwei Gründen nicht geeignet: es fehlt eine dement-sprechende Tradition und die jungen Offiziere hätten keine Verbindungen untereinander und kein politisches Programm. Was aber passieren kann
- so der Ostexperte -, ist der Zerfall Rußlands in mehrere Republiken, was durchaus nicht ethnisch bestimmt sein müsse, sondern wirtschaftlich determiniert sein könne.
Die Kommunistische Partei spielt -trotz Neugründung - in Rußland keine Rolle mehr, die Mitglieder seien in 14 nationale KPs aufgesplittert: „Und die haben kein Programm, sie leben von der Vergangenheit." Von großer Bedeutung für die Zukunft Rußlands sei die Einstellung der Jugend: und die beschreibt Gosztony mit dem Begriff „anarchistisch". „Die Jungen wollen etwas vom Leben haben, nachdem man sie jahrelang betrogen hat. Sie wollen schicke Schuhe, tolle Kleidung und Discos."
Eine Auswanderungswelle von Russen hält Gosztony für ausgeschlossen. Den Menschen geht es nicht schlecht, Hunger müsse niemand leiden. „Der Russe liebt seine Heimat, und wenn er verhungern muß, dann lieber zu Hause als anderswo. Außerdem findet er sich in einer Welt ohne cyrillische Schrift nicht zurecht und schließlich hat es nie einen russischen Exodus gegeben."
Eine Kriegsgefahr sieht Gosztony in dem von Russen nie verschmerzten Verlust der Krim, die Nikita Chruschtschow 1955 als „Geschenk" den Ukrainern vermachte. Den Nationalisten in Rußland - der jüngst häufig in Erscheinung tretende Fraktionsführer (einer von drei Dutzend im russischen Kongreß) der Gruppe „Rußland", der erst 43jährige Jurist Sergej Baburin, gehört dazu - tut das noch immer weh. „Dieser Krieg wird nicht heute oder morgen ausbrechen, aber er ist irgendwie vorprogrammiert", glaubt Gosztony.
Der Historiker bemängelt einen Willen der Russen, Grund und Boden zu erwerben. „Bei den Kolchosen hat sich nichts geändert. Die Leute sind nicht wild aufs Privatisieren. In 70 Jahren hat man in Rußland individuelles Denken verlernt."
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