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Jenseits von Gut und Böse?

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„In einem Bericht wurde darauf hingewiesen, daß ein jüdischer Mischling ersten Gorades als Luftschutzwart eingesetzt worden sei. Nach FühlungnahmemitdemReichs-luftfahrtainisteriuni hat daraufhin das Präsidium des Reichsiuftschutz-bundes die nachgeordneten Dienststellen erneut darauf hingewiesen, daß auf die Vermeidung des Einsatzes jüdischer Mischlinge als Luftschutzwarte noch mehr als bisher zu achten sei.“ Das teilte die nationalsozialistische Partei-Kahziei am 14. März 1942 mit —genau zu der Zeit also, da die Alliierten mit der systematischen Zerbombung der deutschen Städte begannen!

Das Zitat stammt aus dem neuen Buch des Theresaenstadt-Chronisten H. G. Adler, der zahlreiche Akten aus dem süddeutschen Raum für „Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland“ ausgewertet hat; mit dem weiter gesteckten Ziele freilich, an einem Extremfall zu demonstrieren, was jeder von uns heute ist: ein „verwalteter Mensch“. Die Beweisführung für diese — leider wohl stimmende — These beansprucht nicht quantitativ, aber qualitativ den breitesten Raum, wobei der Verfasser für sich in Anspruch nimmt, „nicht nur ein Verbrechen“ neuerlich dokumentiert, sondern eigentlich „eine extreme Irrleistung organisierter staatlicher Tätigkeit und sonderlich der öffentlichen Verwaltung“ aufgezeigt zu haben.

Ein Beispiel solcher „Irrleistung“ ist eingangs mitgeteilt worden; das ganze Buch belegt deren Totalität. Die Frage, was rund eine Million deutsche Juden für Deutschland wissenschaftlich, wirtschaftlich, militärisch und nicht zuletzt auch politisch hätte leisten können, soll hier nicht einmal aufgeworfen werden. Es genügt schon, aus Adlers Zitaten herauszulesen, wie viele Personen mit der Deportation der Juden amtlich befaßt waren, um die „Irrleistung“ recht in den Blick zu bekommen. Alleldie staj^ zählte- 65.000

Mann — das entspricht zahlenmäßig der Stärke eines kompletten Korps. Natürlich hatten nicht sämtliche Gestapo-Beamten direkt oder indirekt mit der Judenverfolgung zu tun,; doch waren anderseits daran auch zahlreiche weitere Institute und Organisationen beteiligt: von SD, SS und Geheimer Feldpolizei über zentrale Partei- und Staatsämter bis zu örtlichen Finanz- oder Meldebehörden. Mitten im totalen Krieg, als schon Magenkranke an der Front standen und Frauen am Fließband der Rüstung werkten, führte eine Armee von wohl einigen hunderttausend (größtenteils fronttauglichen) Männern den bürokratischen Vernichtungsfeldzug gegen die Juden. Zumindest vom nationalsozialistischen Standpunkt aus müßte man also aus dem in die Judenverfolgung statt in die Kriegsführung investierten „Arbeitsaufwand“ den Schluß ziehen: crime doesn't pay. Und allgemein wird man, durch Adlers negative Beweisführung, der alten Wahrheit neuerlich inne, daß Sittlichkeit und Nützlichkeit letzten Endes identisch sind.

Aber — um jedwedem Mißverständnis vorzubeugen — noch einmal, mit dem Verfasser: Das Verbrecherische der nazistischen Judenpolitik steht so völlig außer Streit, daß es nicht erst bewiesen werden müßte. Wovon in dem Buch (und deshalb in dieser Rezension) gehandelt wird, das ist die Abstraktion, zu der das konkret zu lebende Leben unter gewissen Bedingungen gleichsam gefriert. Für Adler sind solche Bedingungen insbesondere dann gegeben, wenn die Verwaltung selber Gewalt wird, was unter Hitler zweifellos der Fall war. Aber warum gerade — oder: gerade auch — unter Hitler? Auf diese Frage bleibt der Autor, streng rationalistisch argumentier-rend, die Antwort schuldig. Er beschreibt, mit bewunderungswürdiger Akribie, die Symptome, aber er nennt nicht die Krankheit selbst. Er fragt nicht, mit Hölderlin etwa;,, Wer

hub es an? wer brachte den Fluch?“ Und antwortet auch nicht mit Hölderlin: „Von heut / ist's nicht und nicht von gestern, und die zuerst / das Maß verloren, unsre Väter / wußten es nicht, und es trieb ihr Geist sie.“ War Auschwitz denn nicht eine äußerste Konsequenz von Hegels Geschichtsphilosophie, die den Menschen zum Exekutivorgan des Weltgeists ernennt?

Aber schon beim Überblicken, und erst recht beim Überdenken des von Adler publizierten Materials der

totalen „Verwaltung“ von Menschen (hier: der Juden) drängt sich die Ahnung auf, daß derart Ungeheuerliches, auch wenn es handfestes Menschenwerk war, allein rational nicht zu fassen sei; und zwar schon deshalb, weil es, dieses Ungeheuerliche, in sich so absurd war: ein — wie das eingangs zitierte Beispiel zeigt — halbjüdischer Luftschutzwart beschäftigt nicht weniger als drei oberste Inistanzen eines Reiches, das sich in einem Kampf auf Leben und Tod befindet! Da stimmen ganz einfach die Relationen nicht mehr, vor allem die zwischen Aufwand und Effekt; die Abstraktion ist evident. Wenn aber nun, im Kollektiv wie im Individuum, die Relationen nicht mehr stimmen, dann stehen wir vor dem Erscheinungsbild dessen, was wir als Paranoia gleichsam domestiziert, ja eigentlich isoliert haben, und das 'in Wahrheit jedoch das Dämonische ist, wie noch Jacob Burck-hardt es definiert hat: „Unfreiheit des Entschlusses, verbunden mit Anwendung der äußersten Mittel, und Gleichgültigkeit gegen den Erfolg als solchen.“

Knapper könnte man ein Resümee aus Adlers Studien nicht ziehen. Aber wiewohl schon Konrad Heiden in seiner bislang unübertroffenen Hitler-Biographie von 1936/37 im Begriff des Dämonischen den Hebel fand, mit dem das Luftschloß des Tausendjährigen Reichs aus den Angeln zu heben war„,hat^Adler dar 5, auf verzichtet, sh*r1 Beschreibung

der Oberfläche die ihr gemäße Tiefendimension zu geben. Hannah Arendt erinnert daran, daß „Verwaltungsmassenmord“ (administrative massacres) im englischen Imperalis- , mus, und zwar im Hinblick auf Indien, theoretisch diskutiert, jedoch praktisch abgelehnt worden 'ist, obwohl, wie man hinzufügen darf, das Britische Weltreich damals sehr wohl über die hiezu benötigten Machtmittel — einschließlich einer als Gewalt benutzbaren Verwaltung — verfügte. Was den Engländern, Gott sei's gedankt, gefehlt hat, das war die fatale Koinzidenz von Dämonie (im Sinn von Burckhardt) und

Bürokratie (im Sinn von Adler), die das Kriterium des Nazismus ist Denn eine Verwaltung, die jenseits von Gut und Böse, nämlich gesetzeskonform, agiert, gehört durchaus noch, ob man das mag oder nicht, in die demokratische Norm. Zu fragen wäre demnach,, in welcher Verfassung die Demokratie selber sich jeweils befindet.

DER VERWALTETE MENSCH. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland. 1076 Seiten, 120 DM. J. C, B. Mohr (Paul Siebeck), Tübin-

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