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Jenseits von Marx undFreud

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Norbert Leser, Politologe und Professor für Sozialphilosophie an der Universität Wien, engagierter, nicht immer bequemer Sozialist mit großer Sympathie für theologische Fragen, hat unter dem Titel „Jenseits von Marx und Freud“ mehrere Aufsätze und Abhandlungen vorgelegt, die dem Problem des Menschen und seiner Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit unserer Zeit gewidmet sind.

Die methodische Grundeinstellung Lesers ist nicht allein die eines engagierten Philosophen, der die Eigenständigkeit der Philosophie gegenüber Ideologien und Einzelwissenschaften gewahrt wissen will, sondern zeugt auch von einer tiefen Emstnahme des Menschen als Individuum, mit seinem Geschick, seinen Möglichkeiten und Grenzen.

Eine ihres Namens würdige Philosophie hat sich darum nach Leser auch der Frage nach dem Sinn menschlichen Daseins, nach dem Sinn des Ganzen zu stellen, auch auf Gefahr sich damit in schärfsten Gegensatz zu relativistischen oder szientischen Strömungen zu bringen.

Die in den letzten Jahren in vielen Schattierungen und Varianten erfolgte Diskussion von Marxismus und Psychoanalyse steht bei Leser so im Zeichen einer grundsätzlichen Distanzierung der Erstarrungstendenz und der Gefahr der Ideologisicrung, der beide Richtungen unterliegen.

Auch wenn Leser beispielsweise die in Frankreich erfolgte Rezeption und Verbindung von Marxismus und Freudianismus bzw. die ultralinken Positio

nen in dieser Diskussion kaum berücksichtigt, stellt der dem ganzen Buch den Titel gebende Aufsatz einen wichtigen Beitrag zur philosophischen Anthropologie der Gegenwart dar.

Ähnliches gilt für den Aufsatz „Christliche und marxistische Anthropologie“, wo Leser behutsam bemüht ist, die historische Gegnerschaft von Marxismus und Christentum in ein Gespräch zwischen beiden zu verwandeln - ohne dabei die entscheidenden Differenzen preiszugeben und etwa das Christentum zu einer prämarxistischen Soziallehre oder einer Strategie für Sozialrevolutionen umzufälschen.

Wie sehr sich Leser gerade um die genannte Sinnproblematik bemüht, zeigt die große und sehr ausgewogene Abhandlung zum Selbstmord, in der in bezug auf metaphysische Positionen (wie Dostojewski oder Camus) die Diskussion zwischen Amėry und Ringel aufgenommen und fortgesetzt wird. Hier wird deutlich, daß das Problem des Selbstmordes als entscheidende Zuspitzung des Todesproblems überhaupt weit über einzelwissenschaftliche, etwa psychologische Fragestellungen hinausreicht.

Bei großer Ernstnahme der Thesen Amėrys über den Freitod in ihrer aufklärerischen Tragweite zeigt Leser die theologischen und ethischen Implikationen des Selbstmordproblemes auf und diskutiert eingehend die Unzulänglichkeit objektiver Kriterien angesichts des Freitodes.

Leser stellt im weiteren die Frage nach der Unterscheidung des Märtyrer- und Opfertodes vom Selbstmord,

um schließlich eine grundsätzliche Ableitung des Selbstmordes mit Verständnis und Toleranz für die existentielle Situation des Hand-an-sich-Legenden zu verbinden.

Nachgerade personales Philosophieren kommt in der Diskussion des Fortschrittproblems zum Vorschein, dessen Dialektik und Ambivalenz Leser ausgiebig durchleuchtet, wobei er speziell dem Marxismus Differenzierungen beim Begriff Fortschritt empfiehlt und den schwierigen Weg zwischen starr konservativer und ebenso starr progressiver Einstellung zu skizzieren versucht.

Ein interessanter Vergleich der Positionen Schopenhauers und Lenins und eine Diskussion der Marx-Psychogra- phie von Arnold Künzli bilden die weiteren Beiträge des Bandes.

Auch hier thematisiert Leser die Wirklichkeit des Denkens und Handelns des einzelnen Menschen in der Gesellschaft, ohne eine der beiden Größen entscheidend zu überspannen und monolithisch zur Grundlage von allem, was ist, zu machen.

Lesers vorsichtig, aber mit großem Engagement, vorgetragenen Thesen sind von einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber endgültigem und fanatischem Wissen gekennzeichnet. Darin meldet sich eine Ideologiekritik, die kein großes und hochtrabendes Programm auf ihre Fahnen geschrieben hat, sondern die erfahren hat, daß etwa der Sinn von Geschichte, wie sich Leser einmal ausdrückt, immer nur bruchstückhaft aufhellbar sein kann, daß uns dies, welche Ideen wir auch immer mit uns tragen, nie in absoluter Gewißheit gegeben sein kann.

Lesers Buch wird sicher zum Widerspruch reizen, vor allem von seiten derer, die sich im Besitze von transzendenten oder weltlichen Heilsgewißheiten glauben.

JENSEITS VON MARX UND FREUD: Stu- dien zur philosophischen Anthropologie. Von Norbert Leser, österreichischer Bundesverlag, Wien 1981. 186 Seiten, öS 198.-.

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