7076169-1993_19_09.jpg
Digital In Arbeit

Jesus als Bestsellerthema

19451960198020002020

Der Erfolg von Büchern, die den Eindruck erwecken, die Kirche halte die Wahrheit über Jesus unter Verschluß, beruht auf einer verfehlten kirchlichen Praxis gegenüber der Bibelwissenschaft.

19451960198020002020

Der Erfolg von Büchern, die den Eindruck erwecken, die Kirche halte die Wahrheit über Jesus unter Verschluß, beruht auf einer verfehlten kirchlichen Praxis gegenüber der Bibelwissenschaft.

Werbung
Werbung
Werbung

Wie viel zu wenig in den Medien beachtet wurde, hat Papst Johannes Paulus JJ. bei der Rehabilitation von Galileo Galilei am 31. Oktober 1992 ausdrücklich darauf hingewiesen, daß der Verurteilung Galileis eine Fehlinterpretation der Bibel zugrundelag (die buchstäblicheAuslegungvonJos 10,13: „und die Sonne blieb stehen"). Ende des letzten sowie Anfang dieses Jahrhunderts wiederholte sich, wie der Papst weiter ausführt, ähnliches, als Christen meinten, die kirchliche Lehre verteidigen zu müssen, indem sie sich gegen die aus liberalen Kreisen stammenden Ergebnisse neuerer Geschichtswissenschaft einfach abkapselten: „Das war aber eine voreilige und unglückliche Entscheidung."

In dieser Ansprache schärft der Papst schließlich den Theologen zweimal die Pflicht ein, sich regelmäßig mit den Ergebnissen der neueren Wissenschaften auseinanderzusetzen, diese bei ihren Reflexionen zu berücksichtigen und ihre Lehre gegebenenfalls anders zu formulieren (Osservatore Romano 1. November 1992, deutsche Übersetzung 13. November 1992).

Auf der Linie dieser positiven Bewertung der neueren Bibel wissenschaft liegt auch die Ansprache von Johannes Paulus II. am 23. April 1993 bei der Vorstellung der neuen Erklärung der PäpstlichenBibelkommissionüber,J3ie Interpretation der Bibel in der Kirche" anläßlich des doppelten Jubiläums der Bibelenzykliken Leo XÜI. (1893) und Pius XII. (1943). Der Papst verteidigt darin ausdrücklich die positive Bedeutung der historisch-kritischen Exegese, wenn er auch in Einklang mit den meisten katholischen Exegeten vor falschen Schlußfolgerungen warnt. Er erinnert unter anderem daran, daß Pius XII. sich 1943 mit seiner Enzyklika , J3i vino afflante Spiritu" gegen die, Attacken" römischer Kreise wandte, die unter Verkennung der menschlichen Sprache der Bibel anstelle einer Berücksichtigung der exegetischen Wissenschaften einzig eine nichtwissenschaftliche, geistliche Auslegung der Bibel forderten (Osservatore Romano 24. April 1993).

Diese neueren Empfehlungen katholischer Bibelwissenschaft haben weitreichende Konsequenzen für die Praxis. Bekanntlich erscheinen in letzter Zeit sehr viele Jesus-Bestseller, die ein völlig vom kirchlichen Glauben abweichendes Christusbild vertreten. Schuldig beziehungsweise zumindest mitschuldig ist nach Auskunft konservativer Kreise „eine gewisse Bibelwissenschaft, die eine spate Entstehung der Schriften des Neuen Testaments annimmt", wie sie sich zum Beispiel in den Einleitungen zu den Evangelien in der,ßinheitsübersetzung" (Katholische Bibelanstalt) niederschlägt (so J. Bauer in der „Wiener Kirchenzeitung" Nr. 17/2. Mai 1993, S. 7).

Unter Berufung auf den in Fachkreisen diesbezüglich umstrittenen anglikanischen Bischof J. A. T. Robinson, der für eine Frühdatierung eintritt, wie auch auf ein von den meisten Experten nicht emstgenommenes kleines Fragment aus der Höhle 7 von Qumran (nur einige nicht eindeutig zu identifizierende Wörter), wird behauptet, daß sich „Theologen und ganze Teile der Kirche praktisch ,aufs Eis führen'" ließen. Dabei wird das emsthafte Bemühen der meisten evangelischen und katholischen Exegeten, das mit den Erklärungen des Zweiten Vatikanischen Konzils in Einklang steht, einfach beiseite geschoben.

Schuldig daran, daß seit Jahren immer wieder Journalisten ein verfälschtes Jesusbild in Bestsellern auf den Markt bringen, ist nicht eine seriöse Bibelwissenschaft, sondern die mangelnde Bewältigung der Aufklärung infolge einer fehlenden Berücksichtigung neuerer bibelwissenschaftlicher Erkenntnisse und die dadurch entstandene „Marktlücke". Wenn nämlich Bücher wie „Verschlußsache Jesus" (M. Baigent/R. Leigh) oder .Jesus Christus. Die Wahrheit über den wahren Menschen" (A. Worm) mit ihren unseriösen Neuauflagen der liberalen Leben-Jesu-Forschung so viel gekauft und gelesen werden, geht das wesentlich darauf zurück, daß man sich von ihnen eine Antwort auf die Frage „Wer war Jesus wirklich?" erhofft, die in der Kirche nicht gegeben wird.

Hier rächt sich eine kirchliche Praxis, die meint, den Gläubigen die Einsichten der Exegese heute noch, wie es der Papst in der oben zitierten Ansprache vom 31. Oktober 1992 für vergangene Jahrzehnte beklagt, vorenthalten zu müssen, um sie nicht zu verunsichern. Dadurch entsteht bei vielen der Eindruck, daß die Kirche die Wahrheit sozusagen unter „Verschluß" halte. Mehr denn je sind darum heute alle Katecheten aufgefordert, den Worten des Konzils und unseres Papstes entsprechend, die echten Ergebnisse der Bibel wissenschaft auch weiteren Kreisen zu vermitteln.

Wer biblische Texte zitiert, ohne auf ihre Entstehungsgeschichte und ihre geschichtsbedingte menschliche Sprache Rücksicht zu nehmen, muß sich die Frage gefallen lassen, ob er dadurch nicht Gläubige wie Ungläubige letztlich in die Irre führt und sie zu falschen Vorstellungen verleitet (etwa vom Sündenfall und Satanssturz, von Jesu Geburt, Wundem, Passion, Auferstehung und Himmelfahrt). Jedenfalls darf er sich nicht wundem, wenn manche dann nach völlig unzulänglichen Machwerken greifen, um dort angeblich die volle Wahrheit über Jesus Christus zu erfahren.

Der Autor ist Ordinarius für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung