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Jetzt mit der roten Heidi

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Die Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten in der SPD — ihrem Selbstverständnis nach mit knapp 5000 Gruppen die größte politische Jugendorganisation in Westeuropa — hat sich über das Wochenende in München neu in ihrer Spitze konstituiert und mit einer Fülle von Anträgen, Resolutionen und Einzelberatungen zu aktuellen politischen Fragen sowie zu Problemen programmatischer Konzeption Stellung genommen. Arbeitsgemeinschaften behandelten in Sondersitzungen die Themen „Demokratisierung der Wirtschaft“, „Dritte Welt“, „Politische und soziale Entwicklung in Westeuropa“ sowie „Schulungsarbeit der Jungsozialisten“. Von den zahlreich vorhandenen Gästen sozialistischer und kommunistischer Organisationen aus dem Ausland sprachen Beatrice Allende und Andreas Papandreou.

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Die Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten in der SPD — ihrem Selbstverständnis nach mit knapp 5000 Gruppen die größte politische Jugendorganisation in Westeuropa — hat sich über das Wochenende in München neu in ihrer Spitze konstituiert und mit einer Fülle von Anträgen, Resolutionen und Einzelberatungen zu aktuellen politischen Fragen sowie zu Problemen programmatischer Konzeption Stellung genommen. Arbeitsgemeinschaften behandelten in Sondersitzungen die Themen „Demokratisierung der Wirtschaft“, „Dritte Welt“, „Politische und soziale Entwicklung in Westeuropa“ sowie „Schulungsarbeit der Jungsozialisten“. Von den zahlreich vorhandenen Gästen sozialistischer und kommunistischer Organisationen aus dem Ausland sprachen Beatrice Allende und Andreas Papandreou.

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Neue Bundesvorsitzende wurde mit 197 von 276 Stimmen die 31-Jährige Lehrerin Heidi Wieczorek-fceul, die Wolfgang Roth ablöst, der eich nach zweijähriger Amtszeit nicht mehr zur Wahl gestellt hatte. Unter den sieben stellvertretenden Vorsitzenden, die ebenfalls neu gewählt wurden, kann — neben einem 34jährigen „Renomraierarbeiter“ — Johann Strasser, der schon im alten Vorstand als Lirnkstheoretiker eine beachtliche Rolle spielte, noch als der relativ gemäßigteste betrachtet werden. Er erhielt immerhin 177 Stimmen, wohl im Gegenzug dafür, daß der einflußreiche Bezirk Hessen-Süd, dem er angehört, auch ein Stamokap-Mitglied aus Berlin im Bundesvorstand akzeptierte. Bei der Vorstellung hatte die engagierte Ohefin des Juso-Bezirks Hessen-Süd (Frankfurt) eindeutig für die Verstärkung der Doppelstrategie plädiert und Standfestigkeit bei deren langfristiger Durchsetzung gefordert. Unerläßlich seien dazu sowohl die Weiterführung der Theoriediskussionen, die aber nicht ohne praktischen Ansatz bleiben dürften, als auch die bewußte Zugehörigkeit zur SPD, ohne deren Beeinflussung keine Reformen durchgeführt werden könnten. Als eine der wichtigsten Kampagnen der nächsten Zeit bezeichnete sie die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien und Banken. Außerdem forderte sie ein Sicherheitsprogramim für ein sozialistisches Europa, das die NATO in diesem Raum überflüssig mache. Mit der SPD — so betonte die Kandidatin ohne Konkurrenz für das höchste Amt der Jusos — wollten die Jungsozialisten nicht die Strategie des Konflikts um jeden Preis betreiben, aber wenn bei Mitbestimmung, Bodenrecht und Tarifverhandlungen Prinzipien aufgegeben würden, dann müßte massiv und deutlich dagegen angegangen werden.

Der scheidende Bundesvorsitzende Roth, der sich künftig mehr seiner Arbeit im Bundesvorstand der SPD widmen wird, versuchte in seinem, nur mit spärlichem Beifall aufgenommenen Rechenschaftsbericht deutlich, die Zusammenarbeit der Jusos mit der Partei mehr als bisher auf einen kritisch-pragmatischen Nenner festzulegen. Anders als beim letzten Münchner Kongreß 1969, der die offizielle Wende zu einer aggressiven sozialistischen Organisation einleitete, dürfe man jetzt nicht nur sagen, was nicht sein soll, sondern man müsse jetzt ganz genau erklären, was die Jusos anstrebten und wie sie es durchsetzen wollten. Die augenblickliche wirtschaftliche Entwicklung biete einen Nährboden konservativ-reaktionärer Mobilisierung, die sich unterschiedlicher Methoden und neuer Ideologieansätze bediene. Schelsky, der Ohefideologe der konservativen Erneuerung, und Biedenkopf hätten mit ihrem angeblichen Gegensatz von individueller Freiheit und Demokratisierung der Gesellschaft Wirkungen erzielt. Es müsse für die Jusos nun darum gehen, zu zeigen, daß diese Freiheit der Wenigen auf Kosten der Freiheit der Vielen verwirklicht werde.

Roth ging auch deutlich mit der eigenen Organisation ins Gericht, der er unterschwellig ein Versagen der geübten Doppelstrategie ankreidete, die nur gelingen könne, wenn sie konzeptionell vorbereitet ist. Die Jusos hätten die Konzeption der politischen und sozialen Freiheit nicht immer klar genug herausgestellt, medienmäßig sich zu wenig deutlich und rechtzeitig von KSV und KPD distanziert und auch den Versuchen der Jungen Union, über die „Schüler-Union“ „Schüler zu Kapitalverteidigern zu machen“, zu wenig entgegengesetzt. Da die Jusos organisatorisch sowieso „katastrophal schlecht“ dran seien, befänden sich auch die organisatorischen Voraussetzungen für eine Schülerarbeit in sehr schlechtem Zustand. Kritische Anmerkungen fand bei Roth auch die im Rahmen der Doppelstrategie immer wieder geforderte Mobilisierung der Massen. Diese Mobilisierungsarbeit könne im Konflikt mit der Erhaltung der politischen Macht in Partei und Staat treten. Oft würden aiuch von Jusos erworbene Machtpositionen im politischen Bereich im Widerspruch zu Mobilisie-rungsohancen stehen und hie und da überforderten diese die eigene Orga-nisationskraft. Außerdem sei darauf zu achten, daß durch sie nicht inhaltliche Positionen geschwächt würden.

Der SPD macht Roth den Vorwurf, sie besäße zur Zeit nicht einmal mehr eine falsche wirtschaftspolitf-sche Konzeption, sie habe schlicht und einfach gar keine. Notwendig sei eine politisch-konzeptionelle Erneuerung der SPD, mit einem antikapitalistischen Wirtschaftspro-graimm.

Die designierte Bundesvorsitzende Wieczorek-Zeul motivierte ihre Ablehnung dieses Antrags recht deutlich und drastisch mit dem Kommentar, daß nach ihrer Meinung das gegenwärtige parlamentarische System keine volle Entfaltung des Sozialismus zulasse und daß die augenblickliche Verfassungswirklichkeit in allen grundlegenden Bereichen nicht mit der Verfassungsnorm übereinstimme.

Resolutionen zu den Koalitionsvereinbarungen über Mitbestimmung und Vermögensbildung sowie zur Billigung der Gewerkschaftspositionen bei den Tarifauseinandersetzungen, die gleich zu Beginn des Kongresses mit großer Mehrheit verabschiedet wurden, kennzeichneten außerdem die harte Linie, die die Jusos auch künftig auf Kollisionskurs zur SPD bringen dürfte. Die Vereinbarung zur Mitbestimmung erweise die FDP wieder einmal als Stütze unternehmerischer Machtpolitik und bedeute eine eindeutige Verhinderung der Forderungen von SPD und DGB nach paritätischer Mitbestimmung. Auch beim Kompromiß zur Vermögensbildung seien alle wichtigen Prinzipien des Hannoveraner Parteitags aufgegeben worden. Die SPD-Bundestagsabgeordneten werden aufgefordert, dem vorliegenden Modell nicht zuzustimmen.

Jochen Steffen, der vor dem Kongreß die Position der Gesamtpartei vertrat, plädierte im Rahmen seiner Theorie-Conference für den Koalitions-Kompromiß, fand darin aber keinen Beifall. Lautstarke Billigung fanden dagegen andere Passagen seiner zeitgenössischen Interpretation des „Manns mit dem rundgeschnittenen Vollbart“. So etwa, wenn er die Partei eindeutig als Hilfsmittel der Arbeiterklasse definierte, gegen die „Multis“ vom Leder zag oder vor dem Liberal-bürgerlichen warnte, das schon „faschistische Züge“ bekommen habe. Nur Schweigen fand dagegen seine grundlegende Peststellung: „Sozialismus muß Lösungen bringen für die konkreten Nöte und Sorgen. Keiner hat das Recht, die Nöte von jetzt einer visionären Zukunft zu opfern.“

Schwerpunkte bei den beschlossenen Anträgen bildeten die Aussagen zur „Doppelstrategie, Parteiarbeit und Mobilisierung der Lohnabhängigen“ sowie „Demokratisierung der Wirtschaft“. Zum ersten Komplex wurde festgehalten, daß sich die Regierungstätigkeit der heutigen SPD als „Modernisierung des Kapitalismus“ verstehe. Die Partei müsse jedoch zu einer konsequent sozialistischen Partei werden, die die Entwicklung von Klassenbewußtsein auf selten der Lohnabhängigen bewußt vorantreibe und organisiere.Parteiarbeit im Rahmen der Doppelstrategie sei deshalb daran zu messen, inwieweit sie zur Unterstützung und Entwicklung dieser Perspektiven beitrage. Im Antrag zur Wirtschaftspolitik lautete ein Kernsatz: „Demokratisierung der Wirtschaft heißt Abbau der privaten Verfügungsgewalt auf allen Ebenen, Übergang zur gesellschaftlichen Kontrolle der Produktion und Selbstorganisation der Lohnabhängigen mit dem Ziel einer an den Bedürfnissen der Lohnabhängigen ausgerichteten Gesamtplanung von Erstellung und Verwendung des Arbeitsprodukts und Koordination durch die Vereinigung der Selbstorganisationen bzw. Verwaltungen aller Bereiche der Gesellschaft und damit Aufhebung der Entfremdung.“ Die Investitionskontrolle, wie sie von den Delegierten als „ein Zwischenziel auf dem Weg zur Verge^ sellsohaftung“ akzeptiert wurde, beruht in ihrem Kern auf der Konstruktion eines Instrumentariums zur Beeinflussung von Investitionen durch direkte Einwirkung über ein Genehmigungsverfahren.

Insbesondere bei der Debatte zum letzteren Antrag, dar nur mit knapper Mehrheit angenommen wurde, zeigten sich die Unterschiede der einzelnen Lehrmeinungen, die mit den Etiketten „Stamokap“ und „Anti-Revisionismus“ auf der einen Seite und „Vorstandsgruppe“ auf der anderen Seite nur unzureichend lokalisiert werden. Tatsächlich klafft der Graben zwischen den Puristen eines fortgeschriebenen Marxismus, die aus einem schwebenden „Sky-lab“-Theorie-Labor mitleidig auf die „Genossen Werktätigen“ herunterblicken und den Pragmatisten, denen ein mickriger Kompromiß-Spatz verheißungsvoller erscheint als die fern gurrende Paradieses-Taube. In München waren die ersteren — begünstigt durch die altersmäßige Struktur der Delegierten — in der Überzahl. Alle Anträge des alten Vorstands, die insgesamt realistischere Tendenzen zeigten, wurden abgewiesen. Nicht Kooperation, sondern Konfrontation dürfte somit auch weitefhin die Arbeitsgemeinschaft der Jusos in der SPD kennzeichnen.

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