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Judas - Satan, Werkzeug oder Atheist?

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Offenkundig geht von Judas eine tiefe Faszination aus, die recht unterschiedliche Reaktionen hervorrufen kann: Entsetzen, Abwehr, Versuche des Verstehens oder des Bestreitens einer Schuld bis zur Identifizierung mit ihm und seiner Tat.

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Offenkundig geht von Judas eine tiefe Faszination aus, die recht unterschiedliche Reaktionen hervorrufen kann: Entsetzen, Abwehr, Versuche des Verstehens oder des Bestreitens einer Schuld bis zur Identifizierung mit ihm und seiner Tat.

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Im Verlauf der Rezeption ist bezüglich der Gestalt des Judas alles mögliche unternommen worden. Zunächst sollen in einem Überblick die verschiedenen Modelle der Judas-Deutung dargestellt werden, bevor wir in einem zweiten Schritt die Texte des Neuen Testaments selbst befragen.

Die am weitesten verbreitete Deutung der Gestalt des Judas war ohne Zweifel jene, welche die Erzählungen vom schändlichen Verrat und gräßlichen Tod des Judas wörtlich nahm und weiter ausschmückte. Sie fand ihren kaum zu überbietenden Höhepunkt in der vierbändigen Predigtsammlung , Judas Der Ertz-Schelm" aus der Feder des wortgewaltigen Abraham a Santa Clara gegen Ende des 17. Jahrhunderts.

Anhand der mittelalterlichen legen-da aurea geht der Wiener Prediger dem Leben des Judas nach und wertet jede Episode für einen Appell an seine Leser und Leserinnen aus. Demnach stamme Judas aus dem gleichen Geschlecht wie der Antichrist, brachte unwissentlich seinen Vater um und heiratete • seine Mutter (Motiv der Ödipus-Sage), machte einen Versuch zur Umkehr und wurde von Jesus in die Schar der Apostel aufgenommen; schon bald aber bereicherte er sich aus der Kasse.

Das Schlimmste aber: „Judas der schlimme Hund verrath, verschwendt, verschachert, vergibt, verkaufft, ver-wirfft, vertändtlet, verhandlet den güldenen JEsum umb Silber" (II 116). Seine Reue kommt zu spät; seine selbstverschuldete ewige Verdammnis steht außer Frage: er sitzt mit Luzifer zusammen in der tiefsten Hölle. Das besonders Bedenkliche dieser Judasinterpretation war und ist, daß hier die negativen Judaszüge fast immer auf das jüdische Volk übertragen wurden und werden.

Abraham a Santa Clara kommt in Band IV überraschend auf jene gottlosen Leute zu sprechen, die Judas gar unter die Heiligen zählen wollen: Sie haben „dessen verrätherisches Schelmstuck gut gehaissen, als habe er ausz purem Eyffer den HErrn JEsum verrathen, damit nur das menschliche Geschlecht durch seinen Todt möchte Erlöst werden" (IV 352). Während es bereits in bestimmten gnostischen Traditionen zu einer Idealisierung der Judasgestalt kommt, findet sich seit der Neuzeit und gerade auch heute eine Interpretationsrichtung, die behauptet, Judas habe Jesus zwingen wollen/müssen, sich als den Messias zu offenbaren.

Nikos Kazantzakis drückt dies in seinem Roman „Die letzte Versuchung" folgendermaßen aus (S. 434): „Bruder Judas", sagt hier Jesus, „Gott wird dir die Kraft verleihen, die dir dazu fehlt, denn so muß es geschehen, ich muß getötet werden, und du mußt mich verraten, wir zwei müssen die Welt retten, hilf mir!" Ähnlich motivierte auch Walter Jens seinen fiktiven Vorschlag, Judas heilig zu sprechen und in die Schar der Märtyrer aufzunehmen („Der Fall Judas", 1975).

Solche Erklärung basiert auf der Methode psychologischen Sich-Ein-fühlens, samt einer eigenartigen Mischung von historischem Vertrauen in die Texte und rationalistischer Exegese, wobei echtes Mitleid mit diesem Menschen aufkommt. Konsequenter Endpunkt ist hier die Stilisierung des Judas als unschuldiges Werkzeug beziehungsweise die Verankerung seines Verrats im göttlichen Heilsplan (W. Feneberg).

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird immer wieder versucht, die Judasgestalt als unhistorisch zu erweisen; der verräterische Judas sei nichts anderes als die Verkörperung des treulosen jüdischen Volkes. Von der Ungeschichüichkeit des Judas geht zum Beispiel auch Sidney Tarachow aus, der sich in seinem Beitrag .Judas, der geliebte Henker" (1960) auf Arbeiten des Freud-Schülers Theodor Reik („Das Evangelium des Judas Iskarioth", 1923) stützt. Mit den Deuteworten beim Abendmahl ernennt Jesus „seinen Liebling Judas zum rituellen Mörder", rituell, weil mit dem Mord das symbolische Verzehren des Opfers verbunden ist. Liebe zeigt sich hier als orale Aggression.

Das Aggressionspotential wird damit aus der Jesusgestalt ausgelagert und auf Judas übertragen. Damit ist Judas zum Sündenbock schlechthin prädestiniert: „Dunkle Aspekte des Gottesbildes, uneingestandene Ablehnung Christi, verdeckter Protest gegen die vorgegebene Sinn-und Normenwelt, mangelnde Akzeptanz der eigenen Person und des eigenen Selbst, all das kann auf Judas und zugleich auch auf die Juden übertragen werden." (H.-J. Klauck, Judas, 1987,29).

In den letzten Jahren gingen starke Impulse von der strukturalen Erzählforschung auf die Exegese aus. Vereinfacht gesagt, braucht eine gute Erzählung neben dem Helden auch einen Schurken, der desto verruchter ist, je strahlender der Held erscheint. Man sieht dies zum Beispiel an den Erzählungen Karl Mays, deren eine ja auch den Titel „Satan und Ischariot" trägt.

Sollte Judas etwa seine Charakterzeichnung einer erzähltechnischen Notwendigkeit verdanken? Die Gefahr besteht hier darin, daß man die methodische Selbstbeschränkung, nicht nach der Historizität zu fragen, unter der Hand in ein ontologisches Urteil umfunktioniert.

„Wer war Judas .wirklich' - nicht als .historische' Gestalt, denn das werden wir niemals wissen, wohl aber als Typ, als eine menschliche Wirklichkeit in uns selber?", fragt Eugen Drewermann in seinem Markuskommentar (II 424). Entgegen dieser grundsätzlichen Frage (Antwort 429: „ein armer Teufel") bietet Drewermann im folgenden historische Überlegungen, wobei er als Grundkonflikt des Judas den zwischen Gesetz und Evangelium beziehungsweise zwisehen Synagoge und Botschaft Jesu bestimmt; sein Verrat führte statt der erhofften Aussöhnung beider aber zum Tod Jesu.

Jetzt ist Judas an beiden Seiten schuldig geworden, jetzt beginnt die höllische Logik der Verzweiflung in ihm. „Nichts ist hier klar. Alles ist undurchdringlich. Aber statt zu verurteilen und zu verwerfen, sollte man inständig beten für Judas. Er war vielleicht der Größte aus dem Zwölferkreis..." (II 446f). - Bedenklich sind hier vor allem die vielen scheinbar historischen, in Wirklichkeit aber phantasievollen Aussagen, auf denen die Argumentation aufgebaut wird.

Den Evangelisten zufolge war der letzte Kontakt zwischen Jesus und Judas im Garten Getsemane ein Kuß; danach sehen sich die beiden nie wieder. Dieser Kuß könne nur ein Abschiedskuß gewesen sein: Judas sei der erste Apostat in der Geschichte des Christentums. Nach reiflichen Überlegungen nahm Judas Abschied von Jesus, ein Abschied, der ebensowenig einer Erklärung bedarf wie die

Berufung, ein Abschied, der aber auch von „erlösungswütigen Theologen" geschützt werden sollte. Dieser Judas ist kein Satan. Er „ist der Mensch, das Sinnbild seines Wesens, unverfügbarer letzter Freiheit. Als diese Freiheit Jesus küßte, wurde er Mensch." (M. Braumann, Der Kuß war Abschied, nicht Verrat, in: R. Niemann (Hg.), Judas, wer bist du?, 1991, 50).

„Aufs Ganze gesehen muß Judas weit gründlicher eingeführt werden denn als ein bloßer Schurke. Auch von ihm gilt ja, daß Christus sagt: Ich habe sie erwählt." (S. Kierkegaard, Tagebücher III 122). Die Fakten, die eine neutestamentliche Exegese liefern kann (vgl. ausführlich Klauck, Judas, 33-116), sind ernüchternd. Er stammte aus Kerijot in Judäa (andere Deutungen des Namens lassen sich wohl nicht halten), vielleicht aus einerfrommen Familie, die ihm den beliebten Namen des Patriarchen beziehungsweise des großen Freiheitskämpfers gegeben hatte. Er wurde von Jesus in seine Nachfolge gerufen und in die Zahl der Zwölf, der Repräsentanten des endzeitlichen Zwölf-Stämme-Volkes Israel, aufgenommen und war wohl nicht weniger begeistert von Jesus als die anderen Jünger.

Im Zusammenhang mit der Verhaftung Jesu spielte Judas dann eine undurchsichtige Rolle; er hatte sich -aus nicht mehr festzustellenden Gründen - von Jesus abgewendet und sogar dazu beigetragen, ihn an seine Gegner auszuliefern. Der Bruch mit Jesus war endgültig - auch nach Ostern ist Judas nicht mehr zurückgekehrt. Damit war er für die christliche Gemeinde „gestorben" und verschwand aus ihrem Gesichtsfeld. Nur deshalb konnten sich später um seinen Tod so viele fiktive Geschichten ranken.

Daß historisch-kritische Exegese zu solcher Ernüchterung führt, hat nichts mit historischem Positivismus zu tun - das sind wir der intellektuellen Redlichkeit und dem Respekt vor der Geschichte schuldig. Nur in der Geschichte, nicht neben ihr oder über ihn, vollzieht sich das Heilsgeschehen. Solche Nüchternheit verhindert auch das Aufkommen von falscher Romantik, die zum Beispiel Judas von jeglicher Verfehlung freisprechen will. Eine „Rehabilitierung" des Judas kann nur darin bestehen, die spätere fiktive Übermalung Schicht für Schicht abzutragen.

Die Exegese kann sichtbar machen, daß der älteste Erklärungsversuch an dem Wort „ausliefern/überliefern" hängt (Mk 3,19). Mit diesem Ausdruck wird ein theologisches Paradoxon thematisiert, das in der Gestalt des Judas auf die Spitze getrieben ist: „Zur Debatte steht das nicht auflösbar dialektische Ineinander von göttlichem Willen und menschlichem Tun. Was Gott bewirken will, das Ausliefern seines Sohnes, der durch seinen Tod am Kreuz die Welt erlöst, setzt ein Mensch in freier Entscheidung in die Tat um." (Klauck, Judas 140).

Aber dieser Ansatz wurde nicht durchgehalten; man verwässerte ihn mit Hilfe der Psychologie und Mythologie - schon im Neuen Testament. Das Charakterbild des Judas verdüstert sich mehr und mehr; den Endpunkt bildet das Johannesevangelium, wo Judas wesensmäßig auf die Seite des Teufels gehört. Solche Deutungen stimmen bedenklich: wir müssen darüber nachdenken!

Was sollen wir mit solchen „farbigen", aber tendenziösen Erzählungen heute tun? Sie mit dem Schlagwort „kerygmatisch" zu versehen - sie wollten eine Glaubensaussage näherbringen und die Leser und Leserinnen möglichst drastisch vor der Gefahr des Glaubensabfalls warnen -, dieses Erklärungsmodell hat einen hohen Preis. Buhmänner aufzubauen, auf Kosten eines Menschen (!), so etwas sollte keine Verkündigung nötig haben. In dieser Hinsicht wird bis heute gesündigt.

Kritischer Umgang mit der Bibel bedeutet dagegen den Einsatz von Unterscheidungsgabe: Zentrales muß vom weniger Wichtigen, Historisches vom Legendarischen unterschieden werden. Exegese und Verkündigung haben die Aufgabe, Hörer und Hörerinnen, Leser und Leserinnen des Evangeliums in solch „kritische", unterscheidende Betrachtung der den Judas betreffenden Texte einzuüben.

Das ganze Panorama der Deutemodelle hatte ja fast immer irgendwo im neutestamentlichen Textbefund einen Anhaltspunkt. Aber: So gut wie nie wird der ganze Textprozeß in seiner Differenziertheit wahrgenommen. Ein Kernproblem der Judasfrage mit direkten praktischen Folgen war und ist ja, daß man den Haß, der den Legenden über Judas die innere Dynamik verleiht, von dem „Verräter" Judas auf das jüdische Volk überträgt und so legitimiert. Und andererseits zeigte uns die Analyse, daß viele Bilder der Judas-Rezeption Projektionen sind, die mehr über die Ausleger aussagen als über Judas. Ihm bürden wir auf, was an Aggressionen und Glaubenszweifeln in uns steckt.

Das bedeutet: Wir müssen lernen, in der Karikatur dieses Menschen unsere eigenen Züge zu entdecken. Nur dann können wir mit der Gestalt des Judas richtig umgehen, nur dann können wir ihn so akzeptieren, wie er uns aus den Texten des Neuen Testaments entgegentritt: als ein Jünger Jesu, verstrickt in den tiefen Widerspruch (der jederzeit der unsere werden kann!) der menschlichen Willensfreiheit.

Univ.-Doz. Dr. Michael Emst ist Leiter der Abteilung für Neutestamentliche Einleitung und Zeitgeschichte am Institut für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Salzburg.

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