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Jugoslawien: Systemkrise mit unabsehbaren Folgen

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In dramatischer Form hat der jugoslawische Parteichef Mitja Ribičičs in der vergangenen Woche vor einem Umkippen der derzeitigen Wirtschaftskrise in eine schwere Krise des politischen Systems gewarnt. Er malte die Möglichkeit von Streiks, Unruhen und nationalen Streitigkeiten innerhalb der Föderation an die Wand. Die Warnungen kommen nicht von ungefähr, sondern sind sowohl durch die aktuellen Ereignisse, als auch durch soziologische Umfragen erhärtet.

Hintergrund für die Äußerungen Ribičičs sind nicht nur die einschneidenden administrativen Sparmaßnahmen der Regierung und die zunehmend zentral-diri-

gistischen Eingriffe in das Wirtschaftsleben, die offenbar nicht seine Zustimmung finden, sondern auch bestürzende Meinungsumfragen. Sie wurden größtenteils von der soziologischen Abteilung des Zentralkomitees durchgeführt beziehungsweise vom Institut der Gesellschaftswissenschaften in Belgrad.

Demnach meinen 88 Prozent der jugoslawischen Arbeiter in einem Staat zu leben, der nur den Interessen der Funktionäre dient. 56 Prozent meinten, auch für Fachleute sei dieser Staat interessant, 49 Prozent halten ehemalige Tito- Partisanen für die größten Nutznießer.

Ein verheerendes Urteil ergab die Frage, wessen Interessen der jugoslawische Staat nicht vertritt: 89 Prozent erklärten nicht die Interessen der Arbeiter, 91 Prozent meinten, die Anliegen der Bauern stünden im Hintergrund. Und sogar 92 Prozent waren sich darin einig, daß die Interessen der Jugend fast keine Rolle spielen.

Aus den Materialien des 10. Kongresses des Bundes der Gewerkschaften Sloweniens geht hervor, daß sich die Einstellung der Arbeiter zum politischen System in nur vier Jahren völlig verändert hat.

Potentielle Substanzverluste des Systems und Indizien von Legitimitätsentzug sind besonders bei den Jugendlichen feststellbar, die unter den offiziell 860.000 Arbeitslosen mit über 65 Prozent vertreten sind. Bei früheren Umfragen hatten sich die Jugendlichen als überwiegend systemfreundlich erwiesen, der Organisationsgrad war 70 Prozent sehr hoch, nur 18 Prozent bekannten sich als „systemfeindlich“.

Mit Schrecken konstatierte die Parteiführung aus einer im September 1982 teilweise veröffentlichten neuen Meinungsumfrage, daß der Prozentsatz der „systemorientierten“ Jugendlichen innerhalb von nur zwei Jahren von 66 auf 53 Prozent gesunken ist. Die Zahl derer, die sich selbst als negativ gegenüber dem System eingestellt bezeichnete, durfte nicht veröffentlicht werden.

Die Untersuchungen von Si- movska und Leinert, veröffentlicht in der Wochenzeitschrift NIN, zeigen eine zurückgehende Bereitschaft der Arbeiterschaft für politisches Engagement und wachsende Distanz gegenüber einer Zugehörigkeit zur Partei. Die neuesten Umfrage-Ergebnisse bestätigen den Trend: 1979 waren 72 Prozent aller befragten Arbeiter der Ansicht, daß es in Jugoslawien demokratisch zugeht und 80 Prozent meinten, die Arbeiterselbstverwaltung gewähre ihnen erhebliche Mitspracherechte.

75 Prozent hielten 1979 die Beschäftigungsmöglichkeiten gut.

1982 werteten nur noch 37 Prozent das System als demokratisch, 38 Prozent hielten die Selbstverwaltung für ein Instrument der Mitbestimmung und nur noch magere 12 Prozent hielten die Arbeitsmöglichkeiten für gut. Auch diese Umfrage signalisiert einen deutlichen und — statistisch gesehen — erdrutschartigen Vertrauensverlust.

Die Differenzen zwischen den Teilrepubliken sind nur im Falle Sloweniens durch Meinungsumfragen erhoben worden. Sie sind so brisant, daß sie bisher einen breiten Kreis gar nicht zugänglich gemacht wurden.

In Slowenien fühlen sich drei Viertel der Bevölkerung in ihrer nationalen Existenz bedroht. Nur 25,4 Prozent der Slowenen waren der Auffassung, innerhalb der Föderation ihre nationale Identität gesichert zu sehen. Vor zwei Jahren war der Prozentsatz noch bei 51 Prozent gelegen.

Von 14 auf fast 35 Prozent stieg die Zahl jener, die der Ansicht sind, der Zustrom von Arbeits

kräften aus den anderen jugosla-, wischen Republiken gefährde die Arbeitsplätze in Slowenien. 40 Prozent der Befragten in Slowenien erklärten, daß der „Bund der Kommunisten“ nicht die Interessen der Bevölkerungsmehrheit vertritt. (Dies ist sicherlich eine „korrigierte Zahl“, die durch die anderen Umfrage-Ergebnisse indirekt widerlegt wird.)

Insgesamt zeigen sich in Jugoslawien eindeutig spürbare Verluste an Zustimmung und Loyalität gegenüber dem politischen System und der politischen Führung.

Die gegenwärtig diagnostizierte Krise des Vielvölkerstaates erweist sich eben nicht als rein wirtschaftlich, sondern auch als politisch. Noch im September 1982 hatte derselbe Ribičič, der heute offen davor warnt, die These von der gesellschaftlich-politischen Krise zurückgewiesen.

Der Legitimitätsverlust der Partei, politische Entfremdung, Autoritätsverlust der herrschenden Eliten - katalysiert durch die Wirtschaftskrise — haben tatsächlich ein Ausmaß erreicht, die die Warnungen von Ribičič vollauf gerechtfertigt erscheinen lassen und der düsteren Zukunftsprognose Ribičič von „ernsten politischen Erschütterungen“ leider einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit zumessen. Eine Systemkrise mit unabsehbaren Folgen ließe sich nur dann vermeiden, wenn die ökonomische Krise in Jugoslawien in absehbarer Zeit gemildert werden kann.

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