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Junge Hoffnung fiir ein neues Europa

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Fiir fiinf Tage verwandelte sich das alte, ehrwurdige Wien in eine junge und lebendige Stadt. Uber 106.000 Jugendliche aus 26 Nationen Ost- und Westeuropas pragten durch ihre Offenheit und Herzlichkeit das Bild in den Straiten.

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Fiir fiinf Tage verwandelte sich das alte, ehrwurdige Wien in eine junge und lebendige Stadt. Uber 106.000 Jugendliche aus 26 Nationen Ost- und Westeuropas pragten durch ihre Offenheit und Herzlichkeit das Bild in den Straiten.

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Das europaische Jugendtreffen der okumenischen Mbnchsgemeinschaft von Taize, ein Treffen, das seit fiinf-zehn Jahren jeweils in einer anderen europaischen Metropole stattfindet, entwickelte sich in Wien ungeplant zum grbBten in diesem Jahrhundert. Der Lowenanteil der jungen Euro-paer kam diesmal aus den osteuropai-schen Landern. Etwa 75.000 Polen, Balten, Ukrainer, Russen, Tschechen, Slowaken, Rumanen, Bulgaren und Ungarn wurden gezahlt. Gemeinsam mit westeuropaischen Jugendlichen suchten sie Wege zur Versohnung und zum Vertrauen in Europa.

Es ging vor allem um die Frage, wie die Briiche zwischen den Volkern, den Konfessionen und Ggnerationen iiberwunden werden konnen. Dazu war es aber vor allem wichtig, daB man einander uberhaupt erst kennen-lernen kann, Zeit und Raum fiireinan-der hat.

Den Brudern von Taize und vielen freiwilligen Helfern gelang dafiir, alien Unkenrufen zum Trotz, eine organisatorische Meisterleistung. Fiir ein Drittel der europaischen Gaste konnten Unterkiinfte bei Familien und in Pfarren gefunden werden, zwei Drittel schliefen in bffentlichen und privaten Schulen.

Als drei Tage vor Weihnachten die Backerei Kuchen-Peter abbrannte, schien das Versorgungschaos perfekt. Doch die Backerei Mann sprang sofort ein. Die Tochter des Firmenchefs war schon zwei Mai in Taize und da muBte sich der Vater geschlagen geben.

Unter der Mithilfe von unbezahlten jungen Helfern, wurde dann im Ak-kord das dringend benotigte Brot gebacken. Bei der Konservenfirma Inzersdorfer stornierten zwblf Mitar-beiter ihren Weihnachtsurlaub, um fiir das Treffen in ihren Ofen die 470.000 Dosenmahlzeiten der billi-geren ungarischen Konkurrenz auf-zuwarmen. Die Okumene der Taize-Gemeinschaft scheint eben nicht nur iiber konfessionelle Grenzen hinweg zu verbinden.

Hautnah spiirten viele Wiener das

Europaische Jugendtreffen in den meist iiberlasteten bffentlichen Ver-kehrsmitteln. Mehrmals am Tag muBten die Jugendlichen von ihren Wohnorten zum Veranstaltungsort am Wiener Messegelande gebracht werden. Aufgrund der Disziplin der Jugendlichen konnte der ganzliche Zusammenbruch des Verkehrs weit-gehend vermieden werden.

Den HaB iiberwinden

In den Messehallen, die zu proviso-rischen Kirchen adaptiert worden waren, fanden mittags und abends gemeinsame Gebete statt. Trotz einer Atmosphare der Freude waren die nachmittaglichen Gesprachsrunden gepragt vom Ernst, der derzeit in Europa spiirbar ist. Wirtschaftskri-sen, nationalistische Tendenzen und Fremdenfeindlichkeit pragen den Alltag vieler junger Europaer. „Jetzt kann mir niemand mehr sagen: Die Polen sind so oder so”, sagte Ellen, eine Teilnehmerin. „Sie haben fiir mich jetzt ein Gesicht. Da ist die Ella aus Krakau, dort der Krzysztof aus Lublin - ich kenne ihre Probleme und deshalb muB ich solidarisch mit ihnen sein.”

Ein Jugendlicher aus Hoyerswerda meinte traurig: „Wenn meine Ver-wandten das sehen konnen, diesen Frieden unter den verschiedenen Nationen - warum ist das nicht in der

Welt mbglich?”. Versohnung und Vertrauen blieben keine naiven Schlagworte bei dem Treffen, son-dern konkretisierten sich von Ange-sicht zu Angesicht.

An den Abendgebeten nahmen zahlreiche Ehrengaste teil. Bundes-prasident Thomas Klestil, der President der UNO-Menschenrechtskom-mission Pal Solt, die Kardinale Hans Hermann Groer und Franz Kbnig und zahlreiche Bischofe kamen, um mit Frere Roger, dem 77jahrigen Griinder von Taize, gemeinsam zu beten. An die jungen Menschen appellierte Roger Schutz, den HaB zu iiberwinden. Europa miisse mit der „Epoche des MiBtrauens und der Verdachti-gung” abschlieBen und in eine „Zeit der Versohnung und des Vertrauens” eintreten.

Solidaritat statt Ausgrenzen

Eine groBe Starke dieser Veranstal-tung lag sicherlich darin, daB ein Europa der Menschen sichtbar werden konnte, die im Glauben an Chri-stus vereint waren, ohne andere aus-zugrenzen.

Am Beispiel der Beitrage, die dieses Treffen finanziert haben, laBt sich sehen, daB schon hier europaische Solidaritat geiibt wurde. Quartier, Verpflegung und Netzkarte kostete fiir Teilnehmer aus EG-Landern 1.300 Schilling. Junge Russen bezahlten dafiir einen Monatslohn, der umge-rechnet aber nur 70 Schilling betragt. Das war ein Grund, warum das Wiener Treffen fiir die Taize-Briider zu einem Defizit von sechs bis sieben Millionen Schilling gefuhrt hat.

Fiir Bruder Wolfgang, einen der Organisatoren, ist das keine Katastro-phe: „Wie konnten wir Menschen abhalten zu kommen, fiir die so ein Treffen vielleicht die letzte Hoffnung vor der Resignation darstellt?”

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