6828446-1974_24_28.jpg
Digital In Arbeit

Juwel ohne Juwelen

Werbung
Werbung
Werbung

Es gibt keinen Aufseher. Man bezahlt keinen Eintritt. Die Bootsmänner machen es sich im Schatten bequem. Felsen, ' Disteln, Fliegengesumm. Eine der schönsten Kirchen, welche die armenische Architektur hervorgebracht hat (und bestimmt die mit dem reichsten bildhauerischen Schmuck) sieht nur wenige Touristen. Ihre Abgeschiedenheit mag sie vor der Zerstörung bewahrt haben. Sie liegt auf einer winzigen Insel im Van-See, dem südlichen Ufer vorgelagert, drei Kilometer weit draußen.

Mit dem Taxi von Van zur Bootsanlegestelle: Eine knappe Stunde. Dann eine Viertelstunde mit dem Motorboot Die Kreuzkirche auf dem Inselchen Achtamar, auch Aght'amar oder Akht'amar, hat in den tausend Jahren ihres Bestehens sehr oft als Zufluchtsort verfolgter armenischer Christen gedient. Einst soll sich auch ein Palast hier befunden haben. Die Schönheit der armenischen Paläste wird in der Literatur oft besungen. Erhalten ist keiner von ihnen. Nur ein Teil der Kirchen. Darunter die Kirche vom Heiligen Kreuz auf Achtamar.

Prominent war sie nur in der Zeit ihres Entstehens, im zehnten Jahrhundert. Damals war sie einer der Hauptsitze des legendären Königs Artzruni, des Gagik Artzruni, der auf der Westfassade der Kirche überlebensgroß im Stifterporträt abgebildet ist, im Relief, mit plastisch herausgearbeitetem Abbild der Kirche.

Der Kirche, die heute langsam, aber unaufhaltsam verfällt, wenn nicht in absehbarer Zeit konservierende Maßnahmen ergriffen werden. Vergleicht man neue Aufnahmen mit etwa zehn Jahre alten, kann man feststellen, daß der Grasbewuchs auf den Dächern der vier die Kuppel stützenden Tonnengewölbe fortschreitet. Anderseits sind die Reliefs an der Außenseite dieser Kirche in einem Ausmaß erhalten, das man heute am vergleichbaren romanischen Baubestand europäischer Kirchen, wo diese dem zerstörenden Einfluß von Industrie- und Auto-abgasen ausgesetzt sind, kaum mehr kennt.

Die Kreuzkirche von Achtamar ist einer der letzten (oder der letzte?) in ihrer vollen ursprünglichen Eigenart erhaltenen christlichen Sakralbauten von Bedeutung auf dem Boden der Türkei. Van, die Stadt am Ufer des großen, salzreichen Van-Sees im äußersten Südost-Anatolien, war bis zum Ersten Weltkrieg armenisches Siedlungsgebiet. Wo die Armenier geblieben sind, ist nur allzugut bekannt.

Erhaltende Maßnahmen wären nicht so sehr wegen des reichen plastischen Schmucks der Kirchenfassaden notwendig, der noch hervorragend erhalten ist, sondern vor allem, um den Verfall der Dächer (und damit der Mauern) zu verhin-

dern, vor allem aber, um die Wandmalereien im Inneren zu sichern, deren Zerstörung sehr weit fortgeschritten ist. Details, die beispielsweise in der Publikation von Sirar-die Der Nersessian („Aght'amar“, Harvard University Press 1965), deren Aufnahmen rund 15 Jahre alt sind, noch deutlich zu erkennen waren, vermochte der Berichterstatter nicht mehr zu identifizieren. Die Vernachlässigung dieser Wandmalereien kann der türkischen Regierung kaum angelastet werden, denn sie werden auch in der gesamten Literatur über die Kirche sehr stiefmütterlich behandelt, wohl deshalb, weil das photographische Material überaus spärlich ist und Fachleute im engeren Sinn die isoliert gelegene Kirche kaum je besuchen. Die Hauptzeugnisse der armenischen Architektur befinden sich in Sowje-tisch-Armenien, und der Weg von dort nach Achtamar ist zwar in der Luftlinde kurz, aber heute normalerweise mit einem Umweg über die Flughäfen von Moskau und Ankara verbunden.

Die Thematik, die von den Bildhauern der zwischen 915 und 921 errichteten Kirche bearbeitet wurde, entstammt griechischen und syrischen Handschriften; sassanidische Motive sollen erkennbar sein. Die innen heute völlig devastierte Kirche (deren Friedhof aber intakt ist) spiegelt in ihrer Baugeschichte die Geschicke einer geschlagenen Region, deren Lage als Durchzugsgebiet aller Eroberer zwischen Ost und West dafür sorgte, daß die Menschen, die hier lebten, nie zur Ruhe kamen. Der linke obere Teil der Ostfassade muß irgendwann zwischen dem Bau der Kirche und dem 14. Jahrhundert beschädigt worden sein, denn das für den Mauerschmuck der Kirche typische Weinlaub ist an dieser Stelle unterbrochen und durch die spätere Darstellung eines Reiters, der sich auf seinem Pferd umwendet, um mit dem Bogen einen hinter ihm aufrechtstehenden Bären zu erlegen, ersetzt. Pferd und Bogenschütze unterscheiden sich stilistisch deutlich von allen anderen Reitern und Pferden auf der Kirche von Achtamar, die mongolischen Gesichtszüge, Haltung, Kleidung und andere Details des Bogenschützen korrespondieren aber mit plastischen Darstellungen Nordarmeniens aus dem frühen 14. Jahrhundert, der Periode der mongolischen Oberhoheit, aber auch mit Abbildungen in Manuskripten aus dem Van-Gebiet im 14. Jahrhundert.

Hauptthema der Aohtamar-Bild-hauer (deren Können höchst unterschiedlich war) scheint ein auf seine Fauna reduzierter Garten Eden gewesen au sein, denn dessen Pflanzen fehlen fast völlig, dafür wird die Tierwelt überaus reich dargestellt; daß es sich hier um eine Absicht gehandelt hat, deutet auch der Hinweis auf die Benennung der Tiere

durch Adam an prominenter Stelle an. Wenige Bibelszenen — die Personendarstellungen verraten eine starke Parallelität zwischen Altem und Neuem Testament. Sündenfall und Erlösung scheinen in Achtamar einander genau gegenübergestellt: Adam und Eva an der Nordfassade, Christus und die Jungfrau als neuer Adam und neue Eva an der Südfassade der Kirche.

Starke Bindung an die literarischen Quellen der plastischen Darstellungen verrät auch die in mehreren „Bildern“ dargestellte Geschichte von Jonas und dem Wal, wo, wohl in Anspielung an eine entsprechende Stelle in den Apokryphen, wo von der Hitze im Bauch des Wals die Rede ist, der Kleidung und Haare des Jonas zum Opfer fielen, Jonas und der Bootsmann vor dem Weg in den Bauch des Wals bekleidet und behaart, nach ihrer Errettung aber nackt und glatzköpfig dargestellt werden.

Besonderheiten der armenischen Geschichte, und wohl der Lokalgeschichte dieses Landesteiles, der zur alten armenischen Provinz von Vaspurakan gehörte, spiegeln sich in den bildhauerischen Darstellungen. So treten alle anderen Märtyrer zurück zugunsten der drei hebräischen Kinder und des Daniel, die, bereit, den Tod von der Hand des Königs von Babylon zu empfangen, dargestellt werden — vermutlich eine Anspielung auf die beiden Artzruni-Prinzen, die als „Märtyrer und Zeugen Christi“ von Moslems getötet wurden.

Auch in Achtamar korrespondierten — wie etwa in der Kirche von Ptghni aus dem sechsten Jahrhundert in Nordarmenien — Medaillons an der Außenfront mit an derselben Stelle im Kircheninneren vorhandenen bildlichen Darstellungen. Ungeachtet des guten Erhaltungszustandes sind viele der bildhauerischen Details entstellt: Sie waren einst mit Glasfuß reich verziert, der für Edelstein gehalten und restlos herausgebrochen wurde. Anfang dieses Jahrhunderts sollen zwei der Heiligenfiguren von Achtamar noch „Edelstein“-Augen gehabt haben. Heute ist nichts mehr davon zu finden.

Viele Darstellungen sind unident-tifiziert, vieles wäre zu klären. So die Frage, warum, entgegen allem Brauch, König Artzruni wesentlich größer dargestellt wurde als Christus und die Jungfrau. Manche Fachleute vermuten dahinter einen Irrtum von unabhängig voneinander arbeitenden Bildhauern. Eine Erklärung, die wenig befriedigt.

Und eine Illustration unseres Tappens im dunkeln auf einem Gebiet, das zwar geographisch, aber keineswegs auf Grund seiner Geschichte und Mentalität an der äußersten Peripherie des christlichen Abendlandes lag.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung