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Kabul am Scheideweg

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Die in Genf am vergangenen Wochenende unter Ägide der Vereinten Nationen begonnenen Verhandlungen zwischen Pakistan und Afghanistan zur Beilegung der seit dem Ausbruch des afghanischen Bürgerkrieges 1979 bestehenden Probleme stehen mit den neuesten Luft- und Artillerieangriffen im Grenzgebiet von Paratschinar unter einem großen Fragezeichen. Umgekehrt sind gerade diese Operationen ein weiteres Indiz dafür, daß die afghanischen Regierungs-

truppen im Kampf mit den islamistischen Oppositionsverbänden die Initiative an Stelle der Sowjets übernehmen wollen.

Die Bomben und Granaten der vergangenen Tage und Wochen mit ihren vielen Toten und Verwundeten reihen sich ein in die schweren Grenzverletzungen des Monats August. Sie spielten sich in einem Raum ab, wo der Hauptnachschubweg der antikommunistischen afghanischen Partisanen über die Berge führt. Offensichtlich ist Kabul um die Sperrung dieser Verbindung bemüht, nachdem die USA den islamischen „Mudschaheddin" von Afghanistan jetzt schweres Kriegsmaterial im Wert von 50 Millionen Dollar in Aussicht gestellt haben.

Bisher war das Patt im afghanischen Bürgerkrieg mit sowjetisch-kommunistischer Herrschaft in den Städten und den Partisanen in der Provinz weitgehend durch das Fehlen von wirksamen Luftabwehr- und AntiTank-Waffen bei den vorwiegend aus in Pakistan lebenden Flüchtlingen rekrutierten Kleinkampf-

verbänden bedingt gewesen.

Auffallend ist jedoch die Rolle, welche auf einmal die afghanische Regierungsarmee und -luft-waffe bei diesen Operationen gegen die Rebellenhochburg Paratschinar jenseits der Grenze, aber auch bei der Partisanenbekämpfung im Landesinneren spielt.

Afghanistans fünfter Bürgerkriegssommer stand im Zeichen verlustreicher Rückzugsgefechte der islamistischen Kämpfer in den Bergtälern um Kabul. Dafür waren vom Pandschir- bis zum Logartal erstmals mehr die Offensiven der Streitkräfte Afgha-

nistans als ihrer sowjetischen Verbündeten ausschlaggebend.

Dabei waren die Soldaten von Babrak Karmal seit den Rückschlägen von 1980/81 von den Sowjets nur mehr mit leichten Waffen ausgestattet und als lokale Hilfstruppen eingesetzt worden. Die Führung in Kabul hatte diesem unwürdigen Zustand schon im Herbst 1981 mit Forcierung der bis dahin nur auf dem Papier bestehenden allgemeinen Wehrpflicht in den von ihr kontrollierten Großräumen Kabul, Dschella-labad, Gasni, Kandahar, Herat und Maimana entgegenzuwirken

versucht.

Jetzt fällt ihre militärische mit einer diplomatischen Offensive zur Gewinnung der Sowjets für ihren Rück- oder wenigstens Teilabzug zusammen, dessen Aussicht der Verhandlungsrunde in Genf zum Durchbruch verhelfen soll. Die Vorstöße von Staats- und Parteichef Karmal, seines Außenministers Dost und anderer Regierungsmitglieder bei sommerlichen Besuchen in Moskau waren allerdings ohne sichtbaren Erfolg geblieben.

Kabul will daher jetzt vermutlich ostentativ demonstrieren,

daß es den „Banden von Konterrevolutionären" auch ohne den großen Bruder Sowjetarmee Herr zu werden vermag. Karmals besondere Härte gegen die pakistanischen Gesprächspartner, die sonst vor Genf recht unverständlich erscheinen mußte, ist in erster Linie in diesem Zusammenhang zu sehen:

In der gegenwärtigen Phase des neuen Kalten Krieges zwischen West und Ost will der Kreml ein Nachgeben in Afghanistan keinesfalls als Schwächezeichen erscheinen lassen. Kabul muß es daher riskieren, sich bei seinem Anlauf zur Konfliktlösung in gefährliche Nähe einer weiteren Eskalation zu begeben.

Afghanische Reformen, die von der Bauernbefreiung über das Bildungs- und Gesundheitswesen bis zur Frauenbefreiung reichen, sollte man über dem sowjetischen Besatzungsregiment nicht blind übersehen und übergehen. Und diese Reformen — zunächst von der traditionsverhafteten Bevölkerung leidenschaftlich abgelehnt — finden auch in den „befreiten Gebieten" zunehmendes Interesse.

Die radikalste und größte afghanische Partisanenorganisation, der Hizb-i Islami, sieht daher schon in den Karmalisten, und nicht mehr in den Sowjets, ihren Hauptgegner. Wie der eben aus dem Pandschir-Tal zurückgekehrte Kontaktmann eines schwedischen Hilfswerks für Afghanistan berichtet, haben dort diese afghanischen Anhänger Chomeinis, und ebenso Kommandanten der nicht weniger, fundamentalistischen „Dschamiat" Abkommen mit sowjetischen Einheiten getroffen, nicht diese, sondern nur die Regierungstruppen Karmals anzugreifen.

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