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Kärnten - oder: Gestörte Verhältnisse

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Rund um den 19. Jahrestag der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages gab es in Kärnten auf Hauswände gemalte proslowenische Parolen und einige wenige Betrachtungen zum „Minderheitenproblem“ in einigen wenigen österreichischen Tageszeitungen.

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Rund um den 19. Jahrestag der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages gab es in Kärnten auf Hauswände gemalte proslowenische Parolen und einige wenige Betrachtungen zum „Minderheitenproblem“ in einigen wenigen österreichischen Tageszeitungen.

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Beides, die Parolenmalerei und die Betrachtungen, machte deutlich, ein wie gestörtes Verhältnis zu diesem Problemkreis immer noch besteht. Die aufgemalten Parolen drückten aus, was jedermann weiß: daß Österreich seit 19 Jahren mit der vollen Erfüllung des Artikels VII des Staatsvertrages in Verzug ist und auch wer kein Freund von Parolenmalerei ist, kann deren Wahrheitsgehalt leider nicht bestreiten. Die publizistischen Betrachtungen aber simplifizieren das Problem zumeist und geraten in gefährliche Nähe von Einseitigkeit. Wer je den österreichisch-italienischen Konflikt um Südtirol aufmerksam verfolgt hat, wird das unangenehme Gefühl nicht los, daß bei uns ungefähr so argumentiert wird, wie ein großer Teil der italienischen Presse argumentierte, bevor es zum „Paket“ kam, das eine Wendung zum Positiven brachte.

Dem „Ortstafelgesetz“ wird zum Beispiel nachgesagt, es habe sich als „undurchführbar“ erwiesen. Das ist nun ganz gewiß nicht der Fall gewesen. Nur weil sich die Bundesregierung entschloß, das Niederreißen zweisprachiger Ortsbezeichnungen quasi hinzunehmen und deren Wiederaufstellung — und damit das Gesetz! — nicht zu vollziehen, blieb es undurchgeführt. Daß es sich dabei um einen gefährlichen Präzedenzfall handeln könnte, ganz dazu angetan, die Rechtsstaatlichkeit der Republik bis in ihre Grundfesten zu erschüttern, dämmert erst sehr allmählich. Der damit verbundene „Gesichtsverlust“ Österreichs ist noch nicht einmal annähernd erkannt worden.

Man sprach auch davon, eine einvernehmliche Lösung der Probleme sei nicht mehr zu erhoffen. Die Minderheit sei eben dagegen. Selbst wenn das stimmte — es stimmt aber nicht! — läge eine unlogische Erklärung vor. Einvernehmlich bedeutet ja, daß beide Seiten aufeinander zugehen müssen, also nicht nur die Minderheit auf die Mehrheit, sondern auch umgekehrt. Von solchen wohltätigen Schritten entfernt sich aber die Politik zur Zeit immer weiter. Indem man auf einem Modus der „Minderheitenfeststellung“ beharrt, den nicht nur die Kärntner Slowenen ablehnen, sondern fast alle europäische Minderheiten (auch die Südtiroler haben das einst abgelehnt!), verhindert man den Konsens im Grunde wissentlich und einige verhindern ihn wohl auch absichtlich.

Man darf nicht davon ausgehen, daß der Artikel VII sich „am Verlangen der Minderheit“ orientiert, dem man irgendwann einmal und irgendwie nachgeben werde. Der Inhalt dieses Artikels steht sehr eindeutig vor uns (von „Minderheitenfeststellung als Voraussetzung“ enthält er nichts) und dieser Artikel wurde freiwillig unterschrieben. Er stellt also eine vertragliche Verpflichtung dar, die nicht nach irgend-jemandes beliebigem Verlangen interpretierbar ist. Und nicht vom Artikel VII leitet sich die Malaise der kärntnerischen und österreichischen Minderheitenpolitik ab, sondern von dessen Nichterfüllung! Daß nun die Minderheit sich um Schutz und Hilfe „nach Laibach und Belgrad wendet“, wie eine große Zeitung richtig feststellte, ist kein einmaliger Vorgang, sondern ein natürlicher.

Jugoslawien ist dem Staatsvertrag beigetreten, also in einem ganz gewissen Sinne auch Partner des Artikels VII und die Kärntner Slowenen tun — nach 19 Jahren! — nichts anderes als unsere Südtiroler Brüder zuvor getan haben; sie wenden sich an ihre Schutzmacht. Als Italien das Gruber-de-Gasperi-Ab-kommen durch allerlei Kniffe und Interpretationen bis auf Null entwertet hatte, betrieben die Südtiroler (mit Erfolg) die Internationalisierung

des Streitfalles und verschafften sich Österreich als Sekundanten. Zum Glück siegte am Ende — der Weg dahin war mühsam und sogar blutig! — Vernunft und guter Wille. Ausgerüstet mit dieser Erfahrung, müßte es Österreich eigentlich leichter fallen, sich in der Frage der Kärntner Slowenen vernünftig zu orientieren. Soviel anders ist diese nämlich nicht beschaffen.

Mit allgemeinem Bedauern wird eine „Abkühlung des Verhältnisses zu Jugoslawien“ konstatiert; aber es herrscht zur Zeit wenig Einsicht darin, daß dieses Verhältnis von der Minderheitenfrage nicht losgelöst werden kann. Aus vielen Gründen kann Jugoslawien nicht von der vollen Erfüllung des Artikels VII Abstand nehmen. Jeder politisch erfahrene Realist wird das begreifen.

Wenn aber der Zustand der Nichterfüllung weiterhin andauert, dann wird man mit noch ganz anderen Verwicklungen zu rechnen haben. Erstens ist es nicht anzunehmen, daß sich die Kärntner Slowenen einem solchen Zustand fügen werden, das ist auch von ihnen nicht zu verlangen. Wer begibt sich schon einer Nutznießung vertraglicher Abmachungen freiwillig? Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: kürzlich hörte man die Ansicht, die Kärntner Slowenen genössen ja ohnedies die gleichen Rechte wie jeder andere Österreicher auch, was also wollen sie denn eigentlich? Aber darum geht es nicht. Im Staatsvertrag wurden ihnen einige weitere Rechte zugesichert und nur um diese, wenn man will, zusätzlichen Rechte geht es. Unter anderem befindet sich darunter das Recht auf Gebrauch der slowenischen Muttersprache vor Ämtern und Gerichten in gewissen Bezirken; um zweisprachigen Schulunterricht unter gewissen Voraussetzungen (Elternrecht); um zweisprachige topographische Aufschriften, ebenfalls in gewissen Gebieten. Damit soll die freie soziale, kulturelle und politische Entwicklung der Minderheit garantiert werden.

Was die Amts- und Gerichtssprache betrifft, so gibt es darüber zur Zeit nur Verordnungen. Die Minderheit sähe lieber eine gesetzliche Regelung, da Gesetze nicht ohne weiteres rückgängig gemacht werden können (der Nichtvollzug des „Ortstafelgesetzes“ ist eine einwandfrei ungesetzliche Aktion!), Verordnungen aber schon. Auch andere Kuriositäten, wie die Einsetzung eines

„Slowenenreferates“ in der Kärntner Landesregierung durch den scheidenden Landeshauptmann Sima und die „Stillegung“ dieses Referates durch seinen Nachfolger, Landeshauptmann Wagner, fördern in der Minderheit das Gefühl, gefrotzelt zu werden, was immer da für interne Widersprüchlichkeiten und Gründe vorliegen mögen. Würden wir uns, sollte man sich fragen, gerne und willig 19 Jahre frotzeln lassen? Und, so muß man weiter fragen, ist es klug, eine solche Politik zu machen?

Wir alle sind geschichtliche und leidtragende Zeugen, zu welchem Ende sowohl ungefestigte und haltlose „Erfüllungspolitik“ als auch herostratische, Nichterfüllungspolitik“ führen können. Das sollte uns bewegen, am 20. Jahrestag der Unterzeichnung des Staatsvertrages anders, nämlich besser, dazustehen.

Was die jugoslawische Haltung betrifft, müssen wir einiges berücksichtigen, was diese bestimmt. In der Tat leben in Jugoslawien „nur nationale Minderheiten“, das heißt also: mehrere Völker zusammen. Dabei kommt es auch zu Schwierigkeiten, die gerade der Österreicher verstehen sollte. Doch bedeutet dies, daß Jugoslawien in seinen Grenzen eine sorgsame, ausgewogene und weit über das sonstwo übliche Ausmaß hinausgehende „Minderheitenpolitik“ treiben muß. So ein Staat kann nicht beliebig beiästet werden durch unergiebige Minderheitenpolitik seines oder seiner Nachbarn. Er reagiert seismographischer, weil seine Völker seismographisch reagieren.

Wir wissen, daß Jugoslawien für diese Fragen so besonders neuralgisch ist, weil sie auch zwischen Roosevelt, Churchill, Stalin und Tito eine enorme Rolle spielten. Roosevelt und Churchill zum Beispiel waren immer der Ansicht, daß, wenn Jugoslawien sich „zwischen West und Ost“ nicht halten und erhalten könne, man eben „Serben und die anderen voneinander trennen sollte“, wobei „die Serben“ zur sowjetischen,

„die anderen“ zur westlichen Inter-essenssphäre gezählt werden würden. Von Stalin wird berichtet, daß er solchen Gedanken nicht sehr energisch widersprochen habe. Einzig Tito war unbeirrbar dagegen. Nun muß man das, was im Verlauf eines weltpolitischen Ränke- und Einflußspieles ausgesprochen wurde oder wird, nicht immer für bare Münze nehmen. Die Diplomatensprache bedient sich vieler Wendungen und Behauptungen, die einer näheren Prüfung nicht standhalten. Aber für die unmittelbar Betroffenen, diesfalls für die Völker Jugoslawiens, bleibt da immer ein Rest zurück, der sich ins Irrationale steigern kann. Deshalb auch ist Jugoslawien als Föderation südslawischer Völker (unter denen aber auch Albaner, Magyaren, Deutsche und Italiener leben) so ungemein allergisch. Man darf nicht darüber hinwegsehen, daß es dieser Allergie im Falle Österreich und Kärnten nie wirklich freien Lauf gelassen hat. Und davon darf man wiederum nicht ableiten, daß diese Allergie beliebig strapaziert werden könnte. Im Gegenteü: weit vorausschauender wäre es, anzunehmen, daß schon sehr bald eine Situation eintreten könnte, in welcher das Problem von seinem Kern und von dessen Umwelt her in höchstem Maße internationalisiert werden würde.

In diesem Zusammenhang wird es wenig interessant sein, warum es in Kärnten zu keiner Lösung gekommen ist. Da der Artikel VII Umriß und Inhalt der Lösung enthält, wird nur über dessen Erfüllung geredet werden. Da wir uns aber 19 Jahre Zeit gelassen haben, kann es geschehen, daß plötzlich uns gesagt wird, wie nun die Erfüllung auszusehen hat, was sicherlich keine günstige Position für uns wäre.

Kärntner Sozialisten und auch die SPÖ-Zentrale in Wien argwöhnen, ÖVP und FPÖ wollten „die Regierung“ sozusagen „ins offene Messer laufen lassen“. Im sich dähinschlep-

penden Stadium von kommissionel-len Erwägungen, parlamentarischen und Parteienverhandlungen käme „die Regierung“ — auch durch außenpolitische Ereignisse — in „Zugzwang“, der wiederum, wie im „Ortstafelkrieg“ schon gehabt, die SPÖ schwer malträtieren könnte. Dafür bestehen in Kärnten tatsächlich „günstige Voraussetzungen“, die der SPÖ bei den nächsten Landtagswahlen schwer zu schaffen machen dürften. Schon hat man slowenische Kandidaten aus den SPÖ-Listen eliminiert, was den Schluß zuläßt, die SPÖ in Kärnten werde zumindest den Großteil bisher ihr gewidmeter „Slowenenstimmen“ verlieren. Als „Erfüllungspolitiker“ werde sie aber auch keinen Sukkurs mehr von den sogenannten „Nationalen“, deren es auch in der SPÖ Kärntens viele gibt, erhalten. Der „Sturz des sozialistischen Landeshauptmannes“, seit 1945 außerhalb jeder Erwägung oder Hoffnung, scheint greifbar nahe, mit allen Folgen.

Das ist gewiß gediegene Taktik und wenn es sich nicht um einen Vertrag und um ein zweifelsfrei auch zwischenstaatliches Problem handeln würde, eben auch das legitime Rüstzeug der Parteipolitik. In der ganzen Dimension der Minderheitenpolitik ist davon jedoch absolut nichts zu halten. Erstens, weil dann eben ein „nichtsozialistischer Landeshauptmann“ die Malaise zu spüren bekäme, unter noch erschwerten Umständen. Zweitens, weil das Risiko in keinem Verhältnis zum Erreichbaren steht. Drittens aber, weil es sich schlechterdings um ein unmoralisches Spiel mit Menschenrechten und Menschenschicksalen handeln würde, sollte das alles wirklich so kommen.

Gewiß, auch der Mehrheit wird einiges zugemutet. Was ihr aber tatsächlich wie Zumutung erscheint, erhält diesen Charakter nicht durch den Artikel des Staatsvertrages, sondern durch dessen Nichterfüllung, die gewisse Teile der Mehrheit in den Glauben versetzte, der Artikel VII sei ohnehin nicht ernst gemeint, sei bloße Camouflage, zu Papier gebrachtes Augenzwinkern der Auguren. Dieser Irrglaube, der sich mit den bestehenden und den noch kommenden Realitäten nicht verträgt, ist es, der so viele Angehörige der Mehrheit irritiert und erschüttert. Bis zu einem viel zu hohen Grade sind die drei führenden Landesparteien, SPÖ, ÖVP und FPÖ, bereits Opfer dieses Irrglaubens, gegen den sie nicht aufzutreten wagen, weil sie davon mehr als bloß einen „Gesichtsvertust“ befürchten.

Genau dies aber wäre die Zeit und die Situation, in welcher sich alle Beteiligten von den wirklichen oder nur vermuteten Zwängen befreien müßten. Die SPÖ davon, daß durch Lavieren für sie noch irgend etwas zu gewinnen sei. Die ÖVP vom Unbehagen, daß eine vernünftige, einverständliche Lösung dazu führen könnte, daß etliche „Nationale“ von ihr zur FPÖ abwandern und die FPÖ davon, daß sie auf Dauer eine „nationale Politik“ außerhalb der vertraglichen Modalitäten und außerhalb der historischen und politischen Realitäten dieses Raumes noch sehr viel länger mit Erfolg durchhalten könnte.

Sowohl unter den Angehörigen der Minderheit als auch unter jenen der Mehrheit müßte sich die Einsicht verbreiten, daß derart ungelöste Probleme zuletzt einen Radikalismus, da wie dort, auf den Plan rufen, der kaum noch zurückzupfeifen sein würde. Die Welt ist voll von Beispielen, wie dann jenseits von Politik und Vernunft sich eine Wirklichkeit breitmacht, von der man in seinen schlimmsten Nächten nicht einmal zu träumen wagt. Da gilt dann — wenn noch irgend etwas gilt — „das Recht des Stärkeren“ (Faustrecht, das heute mit Dynamik genommen wird), Irritation wie Faszination erweisen sich als nicht mehr steuerbar, die berüchtigte Lunte glimmt am berüchtigten Pulverfaß. Weise Sprüche, gegenseitige Schuldvorhaltungen und andere Beschwörungszeremonien werden davor gegenstandslos, ja, lächerlich.

Es gibt eine weitverbreitete An-. sieht, es könne und werde dazu nicht kommen. Ich fürchte, diese Ansicht ist falsch. Längst hat sie Indizien gegen sich. Man sollte es auf den „Wahrheitsbeweis“ — den beiden Völkern zuliebe! — nicht erst ankommen lassen.

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