6825573-1974_10_07.jpg
Digital In Arbeit

„Kalte Aufrichtigkeit“

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Name, der noch vor einem Jahr in- und außerhalb von Frankreich unbekannt war, hat in letzter Zeit dank der Gunst und dem Haß der Parteien internationale Bedeutung erlangt Der Mann heißt Michel Jobert und ist aus der Regierungsumbildung als unbestrittener Außenminister hervorgegangen. In Frankreich selbst hat die Umfrage eines Meinungsforschungsinstituts ergeben, daß die Popularitätskurve Joberts seit dem vorigen Oktober um

25 Punkte stieg, ein Sprung, der bisher keinem französischen Politiker je gelungen ist. Von vier Befragten bekennen sich drei zu Jobert, einer lehnt ihn ab.

Ein solches Ansteigen . der Volksgunst belohnt die Haltung eines Politikers in einer Krisensituation — in diesem Falle die Haltung Joberts bei seinen Verhandlungen über die Energiekrise im Nahen Osten und in Washington. Daß der französische Außenminister unter den Anhängern des Regierungsblocks 62 Prozent befriedigt und nur 6 Prozent enttäuscht hat, verwundert weniger, als daß er unter den Wählern des oppositionellen, von Lecanuet geführten Zentrums 55 Prozent für und nur 20 Prozent gegen und sogar in der sozialistischen Wählerschaft 43 Prozent für und bloß

26 Prozent gegen sich eingenommen hat. Daß bei den Kommunisten eine Mehrheit von 36 Prozent mißtraut und nur eine Minderheit von 29 Prozent ihm ihr Vertrauen schenkt, äst normal. .

Dieser rapide Aufstieg einer lange Zelt nur im engeren Kreis um Präsident Pompidou bekannten Persönlichkeit hat in der politischen Welt von Paris viel zu reden gegeben; das ist um so verständlicher, als in absehbarer Zeit die beiden höchsten Staatsämter, das des Premierministers und das des Präsidenten der Republik, neu besetzt werden müssen — die Präsidentenwahlen finden allerdings erst in zwei Jahren statt.

Der Pariser „Figaro“ kommentierte Joberts Popularität mit den Worten: „Diesem Manne mit seinem sehr persönlichen, aus offener und bildhafter Knappheit, aus kalter Aufrichtigkeit und verhaltener Leidenschaft gemischten Stil, eignet ein Ton, der selbst die Blasiertesten aufhorchen läßt.“ Die gleiche Zeitung meint, diese Gunst der öffentlichen Meinung erinnere nicht zufällig an jene, deren sich im Mai 1967 de Gaulles Idee eines europäischen, von den Vereinigten Staaten unabhängigen Europa erfreute; auch die Vorbehalte, die ein mehr atlantisch orientiertes Zentrum schon damals an dieser Politik anbrachte, könnten nicht überraschen. Aber diese politische Gruppierung ist numerisch so schwach und überdies in so verschiedene Richtungen gespalten, daß sie nicht ins Gewicht fällt.

Es hat nicht viel Sinn, über Frankreich zu lamentieren oder diesem Land politische Tugendlehren zu erteilen. Wenn man die wirtschaftliche, soziale und politische Lage Frankreichs mit derjenigen Englands, Italiens oder Amerikas vergleicht; steht dieses Land wahrlich nicht schlecht da. Die französische Regierung ist bereits vor zwei Jahren mit ihrem Vorstoß für eine gemeinsame Energiepolitik der EWG in Brüssel auf wenig Gegenliebe gestoßen. In der Nahostpolitik haben sich ihre seit dem Sechstage-Krieg geäußerten Bedenken gegen die von den Vereinigten Staaten unterstützte Haltung Israels gegenüber den Arabern nachträglich als richtig herausge-, stellt.

Daß in der Washingtoner Energiekonferenz die acht anderen EWG-Staaten von dem schriftlich in Kopenhagen formulierten Konzept abwichen, um den amerikanischen Wünschen oder Direktiven entgegenzukommen, unterliegt keinem Zweifel. Ob die Verbündeten Amerikas — das wohlweislich die europäischen Neutralen zu dieser Konferenz nicht einlud — gut daran taten, die Führung der Energiefragen den Vereinigten Staaten zu überlassen, wird die Zukunft lehren. Letzten Endes kann das Energieproblem nur durch eine globale Verständigung zwischen den ölproduzierenden und -konsumierenden Ländern gelöst werden. Frankreich, obgleich anscheinend isoliert, hat schon mehr als einmal und auch bei dieser Gelegenheit laut ausgesprochen, was die anderen still bei sich dachten. Der japanische Außenminister Ohira hat das deutlich zu verstehen gegeben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung