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Kalte Regengüsse

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Die katholische Kirche in England und Wales, mit gegenwärtig rund vier Millionen Anhängern zwar eindeutige Minderheitsreligion, ist aber immerhin nach den Anglikanern hier die zahlenmäßig stärkste Glaubensgemeinschaft und war überdies, auf Grund ihres stetigen Wachstums, seit mehr als einem Jahrhundert Gegenstand des Neides,-aber auch das Vorbild anderer englischer Kirchen. Vor einiger Zeit nun hat ein in der Londoner Jesuitenzeitschrift „The Month“ erschienener Artikel, dem beachtliche Autorität nicht abgesprochen werden kann, wie eine Bombe eingeschlagen mit der statistisch untermauerten Feststellung, daß die Anzahl der Katholiken in England und Wales immer mehr zusammenschrumpfe — mit dem alarmierenden Tempo von rund 250.000 Austritten pro Jahn

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Die katholische Kirche in England und Wales, mit gegenwärtig rund vier Millionen Anhängern zwar eindeutige Minderheitsreligion, ist aber immerhin nach den Anglikanern hier die zahlenmäßig stärkste Glaubensgemeinschaft und war überdies, auf Grund ihres stetigen Wachstums, seit mehr als einem Jahrhundert Gegenstand des Neides,-aber auch das Vorbild anderer englischer Kirchen. Vor einiger Zeit nun hat ein in der Londoner Jesuitenzeitschrift „The Month“ erschienener Artikel, dem beachtliche Autorität nicht abgesprochen werden kann, wie eine Bombe eingeschlagen mit der statistisch untermauerten Feststellung, daß die Anzahl der Katholiken in England und Wales immer mehr zusammenschrumpfe — mit dem alarmierenden Tempo von rund 250.000 Austritten pro Jahn

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Der Verfasser dieses aufsehenerregenden Artikels ist der Statistiker Anthony Spencer, ein katholischer Laie, der bis 1964 Leiter des New-man Demographic Survey war, des offiziellen statistischen Amtes der katholischen Kirche in England; im Augenblick ist Spencer Dozent für Soziologie an der nordirischen Queen's University in Belfast. Seine statistischen Grundlagen dürften unangreifbar sein, und er hatte auch die kirchliche Genehmigung für die Veröffentlichung seiner Untersuchungsergebnisse, die jetzt in weiten Kreisen Gegenstand leidenschaftlicher Diskussionen sind.

Die enorm hohe Zahl der Austritte aus der katholischen Kirche war zweifellos der Punkt des Artikels, der die britischen Katholiken am meisten beunruhigte. Bis etwa zum Jahre 1960 betrug diese Zahl etwa 30.000 pro Jahr — die -jetzige Viertelmillion Austritte bedeutet also einen Anstieg von über 80 Prozent in kaum 15 Jahren. Einen der äußeren Gründe dafür sieht Spencer in der Tatsache, daß die Zuwanderung aus der Irischen Republik, dem traditionellen Reservoir des englischen Katholizismus, lange nicht mehr das ist, was sie einmal war; seit 1968 geht dieser Verkehr in beiden Richtungen vor sich, und immer weniger Iren kommen in das von Wirtschaftskrisen geplagte England.

Aber auch zwei weitere Verstärkungen der katholischen Bevölkerung Englands, wesentlich signifikanterer Art als die irischen Einwanderer, lassen laut Spencer zu wünschen übrig. Da ist erstens die katholische Geburtenrate, die solange wesentlich über jener der meisten anderen Religionsgemeinschaften gelegen war. Im Jahre 1964, dem letzten Spitzenjahr katholischer Geburten in England und Wales, wurden 99.000 Babies geboren und auch katholisch getauft; im Jahre 1972 war die Geburtenzahl auf 50.000 gesunken, und dieser fallende Trend hält bis heute an. Die englischen Katholiken dürften damit den Abstand aufgeholt haben, der auf dem Gebiet der Geburtenkontrolle und der Empfängnisverhütung zwischen ihnen und dem Rest der Bevölkerung bestanden hatte. Und noch tiefergreifend ist vielleicht die zweite Entwicklung, nämlich das dramatische Absinken katholischer Konvertiten. Hatte sich die katholische Kirche Großbritanniens noch bis zum Ende der Fünfzigerjahre eines höheren Prozentsatzes an Konvertiten rühmen können als alle andern hiesigen Religionsgemeinschaften — im Rekord jähr 1959 traten fast 14.000 Briten zum Katholizismus über — so gab es 1972 weniger als 4000 Konvertiten, und auch diese Zahl sinkt ständig. Spencer sieht darin nicht nur einen Schlag für das katholische Prestige im allgemeinen, sondern auch das langsame Versiegen einer der wichtigsten Quellen des katholischen Nachwuchses an Laien und Priestern; 1959 machten die Konvertiten 10 Prozent des katholischen Bevölkerungszuwachses aus — im Jahre 1972 waren es nur mehr 3,9 Prozent. Diesen betrüblichen katholischen

Statistiken ist noch eine andere hin- j zuzufügen, die Anthony Spencer bei . seinen Untersuchungen nicht detail- ^ liert erwähnt hat, nämlich die zu- . nehmende Überalterung des katholi- ( sehen Klerus in England. In der : Londoner Diözese von Westminster ] zum Beispiel sieht es zur Zeit so aus, , daß 37 Prozent aller dort tätigen Priester über 60 Jahre alt sind; die J 50 bis 60jährigen machen 24, die 40 ( bis 50jährigen 20 Prozent aus. Diese ^ Tatsache wird von der englischen , katholischen Kirche auch offen zuge- j geben und beklagt; der katholische ( Bischof Derek Warlock von Ports- , mouth, Sekretär der Bischofskonfe- • renz von England und Wales, wies in ', einer Apologie nach dem Erscheinen , des Spencer-Artikels auf diesen Um- j stand ebenso hin, wie auf den häufi- . ger werdenden Austritt von Priestern aus diesem Stand — durch- ■ schnittlich 25 Ansuchen um Laiisie- ! rung pro Jahr. Gleichzeitig aber er- . klärte Bischof Warlock, daß diese : Zahl bei insgesamt rund 5000 Priestern in England und Wales nicht allzu beunruhigend sei, und daß außerdem eine Verringerung der Anzahl von Priestern nicht unbedingt eine Verringerung der seelsorgerischen Leistungen und Errungenschaften bedeuten müsse. Er betonte ferner, daß das Symptom des Priestermangels ja durchaus nicht nur auf England beschränkt sei, ja, daß es in vielen traditionell katholischen Ländern noch viel ausgeprägter sei als hierzulande, eine Tatsache übrigens, deren sich zum Beispiel die katholischen Auslandsösterreicher in England gerade jetzt besonders schmerzlich bewußt geworden sind. Zur seelsorgerischen Betreuung dieser Menschen — 300 bis 400 Familien in London und Umgebung, an die 700 Familien in mittel- und nordenglischen Industriestädten.— war in den letzten elf Jahren ein einziger österreichischer Priester zur Verfügung gestanden, der diese riesige Aufgabe in unermüdlicher Arbeit bewältigt hatte.

Alle bisher genannten Zahlen und Entwicklungen sind umso betrüblicher, als dadurch mit dem britischen Katholizismus ein Gebäude, oder vielleicht, besser gesagt, ein Baum gefährdet erscheint, dessen gesunde Kraft und echte Verwurzelung im Volk trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Minoritätsstellung lange Zeit hindurch geradezu exemplarisch waren. Man wirft den Engländern so oft ihre Insularität, ihr Anderssein vor — aber gerade diese Dinge sind dort in der Strukturierung der katholischen Kirche zur Stärke geworden.

Dem hier lebenden aufmerksamen ausländischen Beobachter wird zunächst sehr bald auffallen, wie höchst komplex die katholische Gemeinschaft Großbitanniens ist. Er wird lernen, daß er etwa die sogenannten „alten katholischen Familien“ meist irischer Abstammung in den großen west- und nordenglischen Städten nicht mit demselben Maß messen kann wie sie die noch aus der Vorreformationszeit stammenden katholischen Landgemernschaften in Nordengland und Schottland, oder die schon erwähnten Konvertiten, die

„intellektuellen“ Katholiken, die Kinder aus religiösen Mischehen, und so weiter und so fort. Wie vorsichtig man hier bei Generalisierungen jeder Art sein muß, ist klar.

Eine generelle Erklärung aber kann — oder konnte wenigstens bisher — mit aller Zuversicht abgegeben werden: diese Vielfalt und Vielschichtigkeit katholischen Denkens in Großbritannien beruht fest auf einer machtvollen und überzeugten Solidarität, wie sie nur höchst selten in Ländern zu finden ist, in denen der Katholizismus die dominierende Religion ist. Die verfolgte Kirche war immer großartiger als die verfolgende, und wenn die britischen Katholiken heute auch nicht mehr verfolgt werden, so stellen sie doch eine exponierte und häufig getadelte Minderheit dar. Und die Raison d'etre der erwähnten Solidarität britischer Katholiken scheint wohl das den meisten von ihnen gemeinsame Bewußtsein zu sein, einer vielkritisierten und noch vor kurzem verfolgten Minderheit anzugehören, gleichzeitig aber einer universellen katholischen Kirche, die ungleich mehr Mitglieder zählt als ganz Großbritannien Einwohner hat. Dieses Bewußtsein, im Status einer Minorität gleichzeitig Vertreter einer Majorität zu sein, erklärt nicht nur diesen beeindruckenden Korpsgeist, sondern auch viele andere typische Eigenschaften britischer Katholiken, wie etwa das offene und stolze Bekenntnis zu ihrer Religion und ihr schlichtes und absolutes Vertrauen zur Kirche und ihren Priestern.

Warum also verlassen dann aber doch jährlich 250.000 Briten die katholische Kirche? (Wenn auch diese Zahlen von obersten kirchlichen Stellen bezweifelt werden). Die Antworten auf diese Frage sind vielfältig, laufen aber wohl schließlich alle darauf hinaus, daß dieser Trend die allgemeinen Veränderungen widerspiegelt, zu denen es in einer sich immer mehr säkularisierenden Gesellschaft eben kommt. Da ein großer Teil der britischen Katholiken der Arbeiterklasse angehört — und, nebenbei bemerkt, auch meistens Labour wählt — haben sich diese Veränderungen bei ihnen vielleicht langsamer bemerkbar gemacht als bei den Nichtkatholiken, und werden erst jetzt an ihren Früchten erkannt. Viele progressive britische Katholiken, von den Zahlen Anthony Spencers zutiefst betroffen, sind der Meinung, daß die schwindende Anziehungskraft ihrer Kirche auf die langsame und mangelhafte Durchführung der Reformen zurückzuführen sei, die das Zweite Vatikanische Konzil beschlossen hat. Mit anderen Worten: die katholische Kirche Großbritanniens brauche zu lange, sich den Tendenzen der katholischen Welt anzupassen.

Dieselben progressiven Priester und Laien sind auch vielfach der Meinung, daß die ökumenische Bewegung in Großbritannien von katholischer Seite nicht aktiv genug in Angriff genommen werde. Dieser Vorwurf scheint jedoch eher eklektischer als praktischer Natur zu sein; nicht nur kann man in zahlreichen Kirchen im ganzen Land häufige gemeinsame Gottesdienste von Anglikanern und Katholiken erleben oder auch gleichzeitige Ausstellungen religiöser Kunst in katholischen und anglikanischen Kathedralen — der österreichische Radierer und Maler Ernst Degasperi zum Beispiel hat das in London und anderswo schon des öfteren fertiggebracht — sondern im April dieses Jahres ist auch ein Katechismus veröffentlicht worden, der von anglikanischen und katholischen Theologen gemeinsam verfaßt worden ist und erkennen läßt, daß diese beiden Religionsgemeinschaften jetzt zu einem Einverständnis gekommen sind, das sich über den gesamten Bereich christlicher Dog-matik erstreckt. Der ökumenische Prozeß, der am 23. März 1966 mit dem Bruderkuß begonnen hat, den der Papst damals mit dem Erzbischof von Canterbury in der Sixtina austauschte, ist damit viel rascher und weiter fortgeschritten, als die meisten Theolögen es zu diesem Zeitpunkt erwartet hätten. Aber der britische Kardinal Heenan hat in einem mir gewährten Interview schon vor zwei Jahren erklärt, daß er nach langen Gesprächen mit seinem guten Freund, dem damaligen anglikanischen Erzbischof Ramsey, keinerlei greifbare Hindernisse für eine Wiedervereinigung der beiden seit 400 Jahren getrennten Kirchen sehen könne — und wenn es jetzt tatsächlich dazu kommen sollte, dann könne dies unter Umständen schlagartig eine völlige Änderung der Situation der britischen Katholiken mit sich bringen, eine Änderung, deren Ausmaße zur Zeit kaum abzusehen sind.

So wird also die drohende Frage, die Kardinal Heenan kürzlich einer gemischten Theologen- und Laienkonferenz gestellt hat, vielleicht doch ein wenig von ihrer düsteren Pro-phetie verlieren; die Konferenz fand unter dem Titel „England und Wales — neue Misisonsgebiete?“ statt

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