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Kalter West-, kalter Ostwind

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Verspricht das Jahr 1973 einen ähnlich hohen Stellenwert in der Geschichtsschreibung zu erhalten wie die ihm vorangegangenen zwölf Monate? Garantieren die durch Henry Kissinger 1972 in Peking und Moskau auf gestoßenen Türen den Luftzug für eine politische Klimaveränderung im Sinne einer weltweiten Entspannung? Washington propagiert 1973 lautstark als das Jahr Europas. Ist dies nur eine versöhnliche Geste an die Adresse der Verbündeten in der alten Welt, eine Kompensation dafür, daß Vietnam die Freundschaftsbande über Gebühr strapaziert hat? Oder schuf man bloß ein politisches Kürzel für die Tatsache, daß drei europäische Städte ausersehen sind, Tagungsort für internationale Verhandlungen zu sein? Konferenzen, die möglicherweise nichts anderes bringen als die öffentliche Anerkennung der Einflußsphären der beiden nuklearen Supermächte?

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Verspricht das Jahr 1973 einen ähnlich hohen Stellenwert in der Geschichtsschreibung zu erhalten wie die ihm vorangegangenen zwölf Monate? Garantieren die durch Henry Kissinger 1972 in Peking und Moskau auf gestoßenen Türen den Luftzug für eine politische Klimaveränderung im Sinne einer weltweiten Entspannung? Washington propagiert 1973 lautstark als das Jahr Europas. Ist dies nur eine versöhnliche Geste an die Adresse der Verbündeten in der alten Welt, eine Kompensation dafür, daß Vietnam die Freundschaftsbande über Gebühr strapaziert hat? Oder schuf man bloß ein politisches Kürzel für die Tatsache, daß drei europäische Städte ausersehen sind, Tagungsort für internationale Verhandlungen zu sein? Konferenzen, die möglicherweise nichts anderes bringen als die öffentliche Anerkennung der Einflußsphären der beiden nuklearen Supermächte?

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Unter dem Titel SALT II, dem Namen also, der nun in Genf in die zweite Phase eintretenden Gespräche um eine Reduzierung der strategischen Rüstung, verbirgt sich mehr als die Fortsetzung einer erfolgreichen ersten Gesprächsrunde. Sieht man doch auch in Washington nun langsam immer mehr den tieferen Wert der Verhandlungen von Wien und Helsinki weniger in dem in Moskau unterzeichneten Abkommen als vielmehr in der Tatsache, daß man in mehreren Konferenz jähren zu einer gemeinsamen Sprache gefunden hat.

Über die Probleme der (nach Schwierigkeiten bereits vor dem Start gehandikapten) MBFR-Ver-handlungen in Wien, war man sich wohl im klaren. Dazu trugen weniger die Umstände (wie die Vielzahl der Teilnehmer, der Interessenten und die Vielfalt der Themen) bei, als die Tatsache, daß man erstmals in der Nachkriegsgeschichte ein greifbares Abrüstungsprojekt ansteuert. Alle bisherigen Vorhaben waren ja von vornherein auf eine bloße Rüstungskontrolle, bestenfalls aber auf eine Rüstungsbegrenzung festgelegt worden.

Wenn man nun bei den Wiener Vorgesprächen bereits in den Fragen der Prozedur auf Granit beißt, liegt dies vielleicht weniger in dem Umstand, daß die Zielvorstellungen auf beiden Seiten zu vage sind, sondern darin, daß man mit unehrlichen Absichten in diese Verhandlungen eingetreten ist. Die Terminologie, um die es vordringlich bei den Erkundungsgesprächen in Wien geht, hat eine weittragendere Bedeutung, als bei sonst vergleichbaren Anlässen.

Dies beginnt bei der Bezeichnung. Der Osten sieht nach wie vor in der Namensgebung ein Präjudiz für die Gespräche. Seiner Ansicht nach engt der Begriff: „balanced“ — ausgewogen — bereits den Verhandlungsspielraum allzusehr ein. Der Westen seinerseits wird schwerlich darauf verzichten, scheint ihm letztlich doch dieses eine Wörtchen, rein äußerlich, versteht sich, als der Garant für eine sinnvolle Teilnahme.

Einschließlich Mittelmeer?

Auch in der Frage nach einer etwaigen Erweiterung des Teilnehmerkreises täuscht die vordergründige Argumentation beider Seiten über den wahren Stellenwert dieser Streitfrage hinweg. Die NATO, und hier vor allem die USA, sehen in einer Vergrößerung der Konferenzrunde eine Gefahr für den Gang der Verhandlungen. Dahinter steht aber die Frage der Machtverteilung in Europa. Unter diesem Aspekt muß man auch den Streit um die Einbeziehung Ungarns in den Teilnehmerkreis (oder ein dafür vom Osten gefordertes Tauschgeschäft mit Italien) sehen.

Sollte es zu einer Reduzierung der in den Satellitenstaaten stationierten Sowjetstreitkräfte kommen, deren Polizeicharakter evident ist, benötigt der Kreml in vorderer Linie ein der beiderseitigen Kontrolle entzogenes Stationierungsreservat.

Die Sowjetunion hat seit dem Junikrieg 1967 im Mittelmeer, vor allem über die maritime Präsenz, an Einfluß gewonnen. Eine Einbeziehung des Mittelmeerstaates Italien könnte den Themenkomplex der Präsenz fremder Flotten im Mittelmeer auf die Tagesordnung der Abbaugespräche bringen. Dazu aber verspürt man von westlicher Seite wenig Lust, sieht man in der 6. Flotte doch einen überaus wichtigen Stabilisierungsfaktor in einer noch für Jahre als instabil zu betrachtenden Zone.

Außerdem scheint man Moskaus Taktik zu kennen, sich vor allem dort in Verhandlungen zu engagieren, wo man von einer Position der Überlegenheit aus operieren kann.

In der europäischen Öffentlichkeit hat die östliche Verhandlungsstrategie bisher zu unterschiedlichen Reaktionen geführt. Einerseits hört man bereits Kritik, weil man nicht ohne Grund seit den SALT-Vereinbarun-gen befürchtet, MBFR werde keine echte Abrüstung bringen. Man sieht in den Wiener Gesprächen nur einen Vorwand für eine Rationalisierung der beiderseitigen Rüstungspotenti ale: eine Verlagerung der Rüstungskriterien von der Quantität zur Qualität. Das Pentagon hat in der Tat in letzter Zeit mehrmals einseitige Schritte in dieser Richtung angekündigt. Sie scheinen eher darauf abgestimmt zu sein, einerseits dem inneren Druck auf eine Verringerung der Präsenz in Europa entgegenzuwirken, anderseits auch ohne MBFR-Vereinbarung auf längere Sicht das Engagement in Westeuropa nicht zu einem fiskalischen Problem werden zu lassen.

Was auf der einen Seite als Ubereifer verstanden werden kann, ist auf der anderen Seite Vorsicht und Warnung. Beobachter verweisen auf die knapp vor Konferenzbeginn bekanntgewordenen Verstärkungen in den Streitkräften des Warschauer Paktes. Daraus allerdings allzu tiefgehende Schlüsse auf etwaige Absichten Moskaus zu ziehen, wäre naiv. Letztlich war auch die NATO bestrebt, an den Konferenztisch geeinigt und mit der Absicherung zu kommen, daß ungeachtet der Gespräche die Aufrechterhaltung des eigenen Rüstungsstandards gesichert ist.

Hier droht immer wieder, unter der Notwendigkeit, in längeren Zeiträumen denken zu müssen, die westliche Position unter Druck zu geraten. Die Trends zu einer Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht in der westlichen Sphäre sind bekannt. Schon jetzt belasten die überaus hohen Personalaufwendungen die Verteidigungshaushalte der NATO-Armeen. In erster Linie leidet darunter die waffentechnische Weiterentwicklung. Zu kurz könnten auch Vorhaben kommen, die Rüstung im atlantischen Bündnisbereich zu standardisieren. Ein Moment, das bei den Verhandlungen mit dem Osten dessen Überlegenheit klar ins Auge treten läßt. Sind die Truppen des Ostblocks schon durch längere Dienstzeit, uneingeschränkte Übungsmöglichkeiten und eine voll hinter dem Machtapparat der Streitkräfte stehende Öffentlichkeit den westlichen Uniformträgern überlegen, droht nun noch eine zusätzliche Gleichgewichtsverschiebung durch die Tendenzen zur Berufsarmee.

Wenn auch nie dergleichen ausgesprochen oder nach diesbezüglichen Veröffentlichungen dementiert wurde, besteht für die westliche Seite unzweifelhaft ein stilles Agreement mit dem Osten, daß sowohl in der Teilnahme als auch im Verhandlungsfortgang zwischen den Gesprächen von Helsinki und Wien ein Zusammenhang bestehen müsse. Daher zeigt sich die Öffentlichkeit im Westen auch einigermaßen überrascht darüber, daß der Fluß der Gespräche in Helsinki zunehmend zäher wird. Dies mag wohl auch dadurch entstehen, daß man allzuviel Hoffnung auf diese „Rochade“ gesetzt hatte. Der wahre Grund dürfte allerdings darin liegen, daß man in der finnischen Hauptstadt wohl an dem Punkt angelangt ist, den der Osten immer vermeiden wollte: daß die Gespräche darauf hinauslaufen, Erfolge in Wien mit dem Weiterver-handeln in Helsinki zu koppeln.

Ausgeschlossen von der direkten Teilnahme an den Verhandlungen ist Europa bei den SALT-II-Gesprä-chen. Trotzdem wird gerade in dieser Verhandlungsrunde Europa eine nicht unwesentliche, wenn auch stumme Rolle spielen.

Sei es, daß der Osten versucht, das britische Nuklearpotential, vor allem in Hinblick auf die beabsichtigten Käufe amerikanischer Poseidon-U-Boote, in die Vereinbarungen einzubeziehen, sei es, daß der Westen seinerseits die bisher ausgeklammerte Frage der gegen Europa gerichteten russischen Mittelstreckenraketen forciert.

Generell gesehen besteht aber für die westliche Seite ein viel direkterer Zusammenhang zwischen den Gesprächen von Genf und Wien. Baut doch die Strategie der NATO zunächst auch nach der Neuorientierung auf die sogenannte Taktik der „flexible response“ (also der „gestuften“ Antwort auf eine östliche Aggression), auf dem nuklearen Schirm über der Alten Welt auf. Wird dieser Schirm löchrig, sind die Europäer die direkt Leidtragenden.

Trotz mancher Frustration bedeuten alle drei Konferenzen dennoch einen eminenten Fortschritt in den von beiden Seiten mit unterschiedlicher Intensität vorangetriebenen Entspannungsbemühungen. Daher sollte pauschal keiner Seite, aus welchem konkreten Anlaß auch immer, der Wille dazu völlig abgesprochen werden. Vorsicht ist und bleibt die wichtigste Auffangstellung.

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