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Kampf um mehr Humanität

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„Was ihr dem geringsten der Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." Warum spricht man dann eigentlich nur von hundert Jahren katholischer Soziallehre?

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„Was ihr dem geringsten der Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." Warum spricht man dann eigentlich nur von hundert Jahren katholischer Soziallehre?

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Mit der Enzyklika „Rerum nova-rum" ist diese Verantwortung für die Schwester und den Bruder besonders auch durch und in den Strukturen der modernen Industriegesellschaft angesprochen. Der Mensch steht in der Strukturverantwortung für den Nächsten, er muß sich die Frage stellen, wie die Strukturen gestaltet werden können, damit der „Mensch mehr Mensch werden" kann.

Hier nun liegt ein wesentlicher politischer Auftrag, den gerade auch Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Centesimus annus" anspricht. Diese Aufgabe stellt sich besonders auch aus der Negativerfahrung heraus, daß gesellschaftliche Strukturen den Menschen wesentlich daran hindern können, mehr Mensch zu werden. Dies zeigt sich aus dem geschichtlichen Rückblick auf das Proletariat, das sich in die Industrialisierung herausbildete, das zeigt sich heute im Blick auf die Dritte Welt, das zeigt sich aber auch im Konsumismus der westlichen Welt heute: Strukturen können das Menschsein behindern.

Dagegen die Soziallehre: Die Würde und die Rechte des Menschen müssen im Mittelpunkt gesellschaftlicher Gestaltung stehen. Gesellschaftliche Strukturen sind auf dieses Ziel hin zu befragen und zu gestalten. Den Strukturen kommt so Mittelcharakter zu, nicht sie sind das Ziel, eine Entwicklung, die sich in der Segmentierung der Gellschaft mit der Herausbildung von Sachzwängen und auch vorgeschobenen Sachzwängen sehr leicht ergeben kann. Der Papst warnt in seiner Enzyklika von solcher „Umkehrung von Mitteln und Zielen" (art. 41) und sieht darin den christlichen Sinngehalt von Entfremdung.

In der Verkehrung von Mitteln und Zielen wird der Mensch zu einem Mittel, gesellschaftliche Strukturen und Mittel werden zu Zielen und damit vergötzt. Dies gilt besonders auch angesichts des heute oft feststellbaren Konsumismus, der im Haben verbleibt. „Nicht das Verlangen nach einem besseren Lebensstil ist schlecht, sondern falsch ist ein Lebensstil, der vorgibt, dann besser zu sein, wenn er auf das Haben und nicht auf das Sein ausgerichtet ist" (art. 36). Gerade im Angebot einer Ordnung liegt ja eine wesentliche Funktion der Soziallehre. Sie will Orientierungen angeben, die dann im politischen Alltag in konkrete Modelle umgesetzt werden müssen; dies etwa auch bei der Ar-

beit, deren Gestaltung wesentlich auch von ihren persönlichkeitsgestaltenden und die soziale Entwicklung prägenden Komponenten her erfolgen muß.

Damit, daß der Mensch im Mittelpunkt des Gestaltens stehen muß, ist zugleich auch die Verpflichtung zur Solidarität angesprochen, ist doch das „Solidaritätsprinzip" die Umlegung des Personenprinzips auf den sozialen Raum. Das Ziel, mehr Mensch zu werden, für alle zu ermöglichen, dazu bedarf es des verantwortenden Eintretens für den anderen. Diese Solida-ritätsvperflichtung wird besonders greifbar angesichts der Ärmsten und Schwächsten. Hier muß gerade die Kirche Anwalt der Ärmsten sein und sich denen zuwenden, die übersehen werden. Die „vorrangige Option für die Armen" (art. 57) muß ein wichtiges Entscheidungsprinzip gerade auch für einen Politiker sein, der sich an christlichen Werten ausrichtet. Menschen dürfen nie der Preis sein, der für einen Fortschritt, der dazu noch mitunter zweifelhafter Natur ist, bezahlt wird. Dies ist besonders angesichts egoistisch verkürzter Formen des In-

dividualismus zu betonen.

Der Papst betont in seiner Enzyklika einige Male den Ausbau der Gesellschaft von unten her, vor allem den Ausbau der primären Sozialsysteme, die die Ausformung von „Strukturen der Beteiligung und Mitverantwortung" (art. 46) ermöglichen. Die Entwicklung von solchen Strukturen, die der Anonymität der Gesellschaft und dem Absinken des einzelnen in unpersönliche Vermassung entgegenwirken und so den Beitrag der einzelnen zur Gestaltung der Gesellschaft aktivieren, stellt eine wichtige Forderung an die Politik von heute dar. Wie das in der Wirtschaft der Markt sein kann, der Eigentätigkeit fördert, so bedarf es auch in Gesellschaft und Kultur solcher die Eigentätigkeit anregender und sie auf das Gemeinwohl hin orientierender

Einrichtungen.

Im diesem Zusammenhang müssen auch Haltungen angesprochen werden, die in der Politik aus der Sicht der Soziallehre wichtig sind: Politik muß offen bleiben auf das Ganze geglückten Lebens hin. Die Gestaltung einzelner Lebensbereiche ist immer auf das Ganze menschlichen Lebens zu beziehen. F. W. Menne spricht in diesem Zusammenhang von „transitori-scher Ethik", die diese Perspektive des Ganzen offen hält. In bezug auf Wirtschaft könnte dies etwa heißen, die Frage zu stellen, wie Wirtschaft gestaltet werden muß, damit sie zum Glück des Menschen und aller Menschen beiträgt und wie damit in Verbindung andere Teilbereiche gestaltet werden müssen.

Die christliche Soziallehre setzt Prioritäten: Arbeit vor Kapital, Ethik vor Technik. Politik muß die entsprechenden Relationen gestalten, die diesen Prioritäten zum Durchbruch verhelfen. So ist etwa die Frage zu stellen, wie Technik gestaltet werden muß, damit die Person im Mittelpunkt stehen kann. Politisches Handeln muß ein Handeln in harmonischer Wertverwirklichung sein. Die Verwirklichung materieller Werte ist wichtig; gerade in der Forderung nach dem gerechten Lohn wird dies betont. Allerdings muß die Realisierung materieller Werte immer durchlässig sein auf die Verwirklichung geistiger und solidarischer Werte hin.

Politisches Denken muß realistisches Denken sein. E. Brakelmann schreitadazu: „Es geht um die konkrete Verwirklichung des nächst notwendigen und möglichen Komparativs, das heißt um Verbessern, Entwik-keln, Abbauen, Vermindern, Erweitem - das sind die Tätigkeitswörter des Substantivs Humanisierung." Dabei ist politische Aktion nie abgeschlossene Aktion. „Dieser Kampf um mehr Humanität endet nicht mit dem Sieg des Humanen selbst" (Brakelmann). Vielmehr ist das ständige Bemühen um menschengerechte Gestaltung in den jeweiligen Umständen wichtig.

Bescheidenheit und damit gepaart Entschiedenheit sind notwendige Tugenden im politischen Gestalten. Die Bescheidenheit läßt den Blick offen auf die bessere Lösung hin und auf den anderen, der diese bessere Lösung haben könnte, Entschiedenheit bewirkt den Einsatz auch für die Umsetzung unvollkommener Lösung, in der Kombination mit Bescheidenheit aber so, daß sie immer auf die bessere Lösung hin offen bleibt. So ist Bescheidenheit auf den Dialog aus, der einer menschengerechten Gestaltung näherbringen kann.

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