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Kampf und Sehnsucht

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Ball am Wiener Kaiserhof. Barockes Interieur, fesche Offiziere, schöne Frauen. Seine Majestät betritt unter Walzerklängen den Saal, lächelt wohlwollend den Ballgästen zu, wobei das besondere Augenmerk einer polnischen Baronin gilt, die ehrfurchtsvoll in Kauerstellung verharrt. Just in dem Augenblick, da sich der Landesherr dem anmutigen Kind aus dem nordöstlichen Kronland zuwendet, reißt die Perlenkette der Baronin und die glitzernden Kü-gelchen rollen zu Boden. Der Monarch verliert ob dieser Situation keineswegs die Contenance, sammelt die Perlen eigenhändig wieder ein und übergibt sie in seinem Taschentuch der glückstrahlenden Dame.

Eine Szene aus einem Sissy-Film oder aus dem Genre „Der Kaiser und die Försterchristl”? Keineswegs. Die oben beschriebene Sequenz stammt aus dem 1982 gedrehten Film , Auster ja” („Die Herberge”) des polnischen Meisterregisseurs Jerzy Kawalero-wicz.

Es wäre freilich ungerecht, mit diesem, aus dem Zusammenhang gerissenen Ausschnitt die inhaltliche und formale Aussage des

Films zu charakterisieren, denn der Regisseur aus Krakau vermochte etwas, was im heutigen Österreich nur selten gelingt, nämlich die Welt des versunkenen Habsburgerreiches ohne viel äußeren Aufwand authentisch darzustellen.

Galizien, zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Die Bewohner einer kleinen Stadt fliehen vor der russischen Invasion in die Herberge eines alten Juden. Sie begegnen Chassidims mit ihrem Zaddik, dem Wunderrabbi, jüdischen Kaufleuten und Intellektuellen. Ein ungarischer Offizier, die Dame der Gesellschaft, Angehörige der kaisertreuen polnischen Szlachta, die ruthenische Magd und der katholische Pfarrer vervollständigen diesen kakanischen Mikrokosmos: In diesem Gasthaus ist Osterreich.

Vor den Augen des Zuschauers ersteht eine untergegangene Epoche, in der die Grenzen von Vision und Wirklichkeit verschwimmen.

Auster ja” fügt sich nahtlos in die Tendenz ein, die sich auch in Polen seit einigen Jahren bemerkbar macht. Man fühlt nicht mehr nur primär polnisch-national, sondern mindestens ebenso „mitteleuropej ski”.

Im Bewußtsein des Fehlens der polnischen Souveränität verlagerte sich das nationale Leben auf die Ebene der Literatur, genauer der historischen Literatur. So ist auch der Schwerpunkt des gegenwärtigen polnischen Filmschaffens zu verstehen: Das große historische Drama mit literarischer Vorlage.

Andrzej Wajda setzte in dieser Hinsicht Maßstäbe, vor allem mit seinem 1974 entstandenen Film „Ziema obiecana” („Das gelobte Land”), nach dem Roman des polnischen Nobelpreisträgers Wla-dyslaw Reymont. Am Beispiel des „Manchester des Ostens”, der Textilmetropole Lodz, werden die Mechanismen des jungen polnischen Kapitalismus dargestellt. Deutsche, russische und jüdische Glücksritter des ausgehenden 19. Jahrhunderts liefern sich einen mörderischen Konkurrenzkampf,

Aufstieg und Fall werden gleichermaßen zu Geld verwandelt.

Wajda gehört neben Roman Po-lanski und Walerian Borowczyk — einem Spezialisten für erotischschwüle Dramen — zu denjenigen Regisseuren, die den Ruf Polens als Pionierland des anspruchsvollen Films begründet haben.

In den beiden ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war der polnische Film besonders stark von der Abrechnung mit der jüngsten Vergangenheit geprägt. Wajdas „Der Kanal” (1957) oder Stanislaw Rözewicz' „Der Geburtsschein” (1961) zeigen, wie tief sich die sechsjährige Naziherrschaft in die Seele des polnischen Volkes eingegraben hatte. Mit dieser Zeit beschäftigt sich auch Jerzy Hoffmans „Do krwi ostatniej” („Bis zum letzten Blutstropfen”), der den Kampf polnischer Verbände auf seiten Englands und der Sowjetunion darstellt. In diesem 1978 gedrehten Streifen gelang es Hoffman, Interpretation und Dokumentation zu einem vollendeten Ganzen zu vereinen.

Die Geschichte hat Polen — bis heute — kaum eine längere Phase der Regeneration gegönnt, zwangsläufig ist daher auch die Gegenwart zum Thema des polnischen Films geworden. Wesentliche Impulse kamen wiederum von Andrzej Wajda, etwa in seinem „Der Mann aus Marmor” (1977), der vor dem Hintergrund der Arbeiterunruhen von 1970 spielt oder in einem seiner letzten Filme „Der Mann aus Eisen”, dieser Paraphrase auf den Aufstieg des Dan-ziger Elektrikers Lech Walesa zum charismatischen Gewerkschaftsführer.

Auch Barbara Sass schildert in ihrem 1982 — also in der Kälte des Kriegsrechts — entstandenen Film „Krzyk” („Der Schrei”) die polnische Wirklichkeit der frühen achtziger Jahre. Die Welt des Mädchens Marianna — sie steht stellvertretend für die „no future-Generation” - ist stahlblau und neongelb, eine Satellitenstadt mit Slums, Hochgaragen und Untergrundbahnen, ein Alltag ohne Gnade. Die unmenschlichen Seiten der westlichen Wohlstandsgesellschaft und des real existierenden Sozialismus scheinen sich hier die Hand zu reichen. Warschau ist nicht weit von wo.

Der Schmerz ist ein Motor schöpferischer Kraft. Im polnischen Film wird die Realität durch Sehnsucht überhöht.

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