7039989-1990_13_05.jpg
Digital In Arbeit

Kampfer Jelzin

19451960198020002020

Rußlands Volkstribun Boris Jelzin hat ein Buch geschrie- ben. Er setzt darin mehr auf Demokratie innerhalb der Partei als auf Parteiendemo- kratie. Moskaus Probleme wird er damit kaum lösen.

19451960198020002020

Rußlands Volkstribun Boris Jelzin hat ein Buch geschrie- ben. Er setzt darin mehr auf Demokratie innerhalb der Partei als auf Parteiendemo- kratie. Moskaus Probleme wird er damit kaum lösen.

Werbung
Werbung
Werbung

Bei der Taufe nach russisch-or- thodoxem Ritus wäre unser Held Boris Jelzin beinahe ersoffen. Das erzählt der russische Volkstribun locker in seinen „Aufzeichnungen eines Unbequemen". Was einen nicht umbringt, macht nur härter. Jelzin läßt eine ganze Fülle von Abenteuerstories folgen.

Er berichtet vom Bautechnik- Studenten, der in langen Wande- rungen Erschöpfung und hohes Fieber eisern durchhält und seine Kommilitonen nach einer Boots- fahrt, die Karl May nicht erregen- der hätte schildern können, in letz- ter Minute rettet. Selbstverständ- lich studiert er nächtelang, wird daneben ein bekannter Volleyball- Spieler, Haushalten mit seinen Kräften kennt er nicht.

Als Bauingenieur arbeitet er sich hoch, lernt so zwölf verschiedene Bautätigkeiten kennen. Und wie- der ist Jelzin derjenige, der's allen zeigt: Wie man einen auf einem Bahnübergang hängengeblie- benen LKW vor dem heranrol- lenden Zug und einen im Sturm bedenklich schwankenden Kran vor dem Umstürzen be- wahrt, wie ein statisch total verkorkstes Bauwerk schließlich doch in seinen Fun- damenten bleibt. Jelzin macht's mög- lich.

Dem Tode mehrfach ent- ronnen, wird er Abteilungslei- ter in einem Kammgarn-Kombinat, Verwaltungsleiter, Chefingenieur in einem Wohnbaukombinat und schließlichBauwesenabteilungslei- ter im Gebietskomitee Swerdlowsk. Überall lernt Jelzin die Einmischun- gen der Partei kennen, auch partei- interne Intrigen, Beschuldigungen, Anklagen.die er glänzend übersteht. Wie alle anderen, bekennt er, habe er damals nicht über die negativen Wirkungen des Parteieinflusses auf Wirtschaftsangelegenheiten nach- gedacht.

Nachgedacht hat Jelzin auch nicht über den Beginn seiner eige- nen Tätigkeit in der Partei. Über Motive und Lehrjahre im Apparat, über den Aufstieg bis zum Ersten Sekretär des Gebietskomitees Swerdlowsk erfährt man so gut wie nichts. Erst ab dem Zeitpunkt sei- ner Nominierung durch Breschnew für das Amt des Ersten Sekretärs in Swerdlowsk im Oktober 1976 be- ginnt Jelzin in seinem Buch das innerparteiliche Leben zu durch- leuchten.

Und es ist klar, daß er es mit den Augen eines in der Perestrojka-Ära erst wirklich groß Gewordenen beschreibt. Unser Held nimmt Züge eines Vorreiters der Gorbatschow- Ideen an. Er wird zum Einzelkämp- fer, der die wirtschaftlichen, sozia- len und politischen Nöte seiner Mitmenschen rasch erkennt und in jovialen Gesprächen, die eine Ver- trauensatmosphäre schaffen sollen, Lösungen „gemeinsam" erarbeitet. Ein etwas abgemilderter autori- tär-bürokratischer Stil kennzeich- net seine Entscheidungsprozesse.

Jelzin schreibt - dies kann als Schlüsselstelle seines und wahr- scheinlich auch Gorbatschows Psychogramms verstanden werden: „Ob ich nun Konferenzen durch- führte, Sitzungen des Komiteebü- ros leitete, meine Berichte auf dem Plenum verlas - alles mündete in harten Druck. Damals hatten diese Methoden Erfolg, besonders, wenn der Chef Durchsetzungsvermögen und starken Willen besaß."

Jelzin - so stellt er es selbstin seinen Aufzeichnungen dar - ge- fällt sich in der Rolle des Drein- schlagers. Er bekommt dieses Ima- ge als Parteichef von Moskau. Gor- batschow, der im März 1985 vom ZK-Plenum „gemachte" General- sekretär, wird zum positiven wie negativen Schicksalsgefährten für den Swerdlowsker.

Sensationelle Enthüllungen, wie von manchen Medien angekündigt, die Vorabdrucke von Jelzins Auf- zeichnungen brachten, finden sich weder bei der Beschreibung des Vorgangs der Wahl Gorbatschows zum Parteichef noch bei der Dar- stellung der seinerzeit vieldisku- tierten Entlassung Jelzins als Mos- kauer Parteichef. Bezeichnend ist, daß Jelzin selbst Gorbatschow in einem Brief darum gebeten hatte. Für ihn waren die Schwierigkeiten im Apparat in Moskau unüberwind- lich geworden. Warum hat Jelzin, der alles kann, hier nicht gekämpft und seine Ideen durchgeboxt?

So wie der Volkstribun (der er nach diesen Vorgängen wurde) keine Antwort auf die Frage weiß, welche Motive Gorbatschow am 23. April 1985 zu seinem Perestrojka- Kurs drängten, läßt er im Dunkeln, warum er selbst sich in Moskau nicht durchsetzen konnte: Wie Jel- zin den Ablauf der Dinge schildert, ist er keineswegs zum Rücktritt ge- zwungen worden. Gorbatschow, der, weiß Gott, mit unendlich grö- ßeren Problemen zu kämpfen hatte und hat, ist noch immer im Amt. Ist das mit ein Grund, warum sich Jelzin immer stärker gegen den Zauderer Gorbatschow wandte und seine Popularität ohne politische Verpflichtung und Verantwortung gegen dessen Evolutionismus ein- setzte?

„Ich bin immer mehr in die Rolle des Kritikers hineingewachsen und zwar bei wesentlichen Punkten. Das ergibt' sich, wenn man die Fragen von ihrem Kern her beurteilt. Es gibt eine Tradition im Zentralko- mitee, daß der Vorsitzende nicht zu kritisieren ist. Ich war da ein Fremd- körper (aus Jelzins Reden wird al- lerdings ein in der Wortwahl viel milderer Kämpfer gegen die Er- starrung des Apparats sichtbar, Anm.d.Verf.). In erster Linie bean- standete ich die fehlerhafte Taktik der Perestrojka. Wenn ich zurück- blicke, muß ich vom heutigen Standpunkt sagen, ich hatte recht. Gorbatschow ist derzeit dabei zu verlieren. Und damit verliert unser Land." Bei allem Dreinschlagen sieht Jelzin aber genau, daß es ohne Gorbatschow nicht geht. Er werde für ihn kämpfen, bekennt er, wenn der „Verfechter halbherziger Maß- nahmen" - so Jelzin über Gorba- tschow - in Gefahr geraten sollte. Ob er das noch tun wird bezie- hungsweise kann, wenn der nun- mehrige Präsident mit großen Voll- machten vollends in den nationali- stischen Auseinandersetzungen un- terzugehen droht?

Die Probleme des Riesenreiches lassen sich nicht mehr mit der ei- nen, alles beherrschenden Partei lösen. Gorbatschow hat das - zu spät? - erkannt. Ein Mehrpartei- enstaat ist aber noch nicht in Sicht, die aktu- ellen Probleme mit dem Balti- kum, mit Geor- gien und Molda- wien sind schwieriger denn je. Aber wer im sowjetischen Denksystem auf- gewachsen ist, kann und konnte sich offenbar nur äußerst langsam von den totalitä- ren Strukturen lösen. Jelzin selbst hat Reser- ven gegen das Mehrparteiensy- stem, es habe - wie er schreibt - ja auch in der Tschechoslowakei (!) und in der DDR (!) nicht funktio- niert.

Da wirkt der Populist naiv. Er erkennt nicht die Wurzeln des Pro- blems. Die Zulassung von mehre- ren Parteien in der UdSSR bedeu- tete tatsächlich ein Über-den- Schatten-Springen der KP und ein langsames Auslassen der Schalthe- beln der Macht. Gorbatschow hat diesen Prozeß jetzt eingeleitet. Wo steht Jelzin, der das Amt eines Prä- sidenten der Russischen Föderali- stischen Sowjetrepublik (RSFSR) anstrebt? Geht er seinen Weg weiter als Populist, wird er auch künftig den Leuten nach dem Mund reden und damit wie bisher als Einzel- kämpfer Wahlen gewinnen?

An Jelzins Aufzeichnungen ist zu erkennen, wie dramatisch die Ent- wicklung in der Sowjetunion in den letzten Monaten verlaufen ist. Die Nationalitätenprobleme erregen kaum seine Aufmerksamkeit, manchmal hat man den Eindruck, alles, was sich außerhalb Rußlands abspielt, interessiere ihn nicht. Er konzentriert sich auf Kern-Rußland.

Der Parteitag im Juni dient einer Bestandsaufnahme, wie weit die Kommunisten noch den gesell- schaftlichen Prozeß in der UdSSR steuern und mitgestalten können. Jelzin - so kündigte er bei der Vor- stellung seines Buches in München an - will sich danach entscheiden, ob er eine Art sozialdemokratische Partei gründet und damit die längst begonnene, von Lenin immer ver- teufelte Fraktionierung innerhalb der Partei mit einer Spaltung ab- schließt.

AUFZEICHNUNGEN EINES UNBEQUE- MEN. Von Boris Jelzin. Verlag Droemer Knaur, München 1990.288 Seiten, öS 280,80.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung