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Kann die Gesamtschule wirklich alle Begabungen fördern?

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Die Gesamtschule steht wieder im Mittelpunkt der bildungspolitischen Diskussion. Zunächst in der Schulreformkommission solange außer Streit gestellt, bis die für sie wie für etliche andere neuen Formen der „Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen” durchgeführten Schulversuche echte, wissenschaftlich abgesicherte Ergebnisse gebracht hätten, haben führende Bildungspolitiker der Regierungspartei in letzter Zeit vehement für die Gesamtschule Stellung genommen, die auf der Gegenseite ebenso heftig auf Widerstand stießen. Die FURCHE gibt hier nun einem alten Schulmann Raum, der aus seiner Einstellung als Christ und als Sozialist nie ein Hehl gemacht hat und schon in früheren Jahren mehrfach als Autor aufgeschienen ist. Wir wollen aber gleichzeitig - mit seinem Einverständnis - die Gründe danebensetzen, aus denen wir glauben, gegen die sozialistische Schulpolitik Stellung nehmen zu müssen.

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Die Gesamtschule steht wieder im Mittelpunkt der bildungspolitischen Diskussion. Zunächst in der Schulreformkommission solange außer Streit gestellt, bis die für sie wie für etliche andere neuen Formen der „Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen” durchgeführten Schulversuche echte, wissenschaftlich abgesicherte Ergebnisse gebracht hätten, haben führende Bildungspolitiker der Regierungspartei in letzter Zeit vehement für die Gesamtschule Stellung genommen, die auf der Gegenseite ebenso heftig auf Widerstand stießen. Die FURCHE gibt hier nun einem alten Schulmann Raum, der aus seiner Einstellung als Christ und als Sozialist nie ein Hehl gemacht hat und schon in früheren Jahren mehrfach als Autor aufgeschienen ist. Wir wollen aber gleichzeitig - mit seinem Einverständnis - die Gründe danebensetzen, aus denen wir glauben, gegen die sozialistische Schulpolitik Stellung nehmen zu müssen.

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Nach 50 Jahren Reichsvolksschulgesetz ist schon nach dem Ersten Weltkrieg eine Änderung des Schulwesens fällig geworden, denn das durch einen jahrzehntelangen Kampf der Arbeiter inzwischen zur Mitsprache aufgerufene Volk stellte unter völlig neuen Verhältnissen seine Ansprüche an die Ausbildung seiner Kinder. Sie sollten in der Demokratie die gleichen Chancen haben.

Bekanntlich blieben die von Lehrern aller Parteien begeistert durchgeführten Schulversuche, besonders was die Umgestaltung des mittleren Schulwesens betraf, unter dem rührigen Staatssekretär Otto Glöckel ungenützt. Die Zerstörung der Demokratie blies dem berechtigten Emeuerungs- willen in der Schule das Lebenslicht aus.

Die Entscheidung über den weiteren Schulweg schon im Volksschulalter schien eine Farce. Was weiß ein zehnjähriges Kind, was wissen Eltern und Lehrer? Das Schrumpfen der Zahl der Erstkläßler in Gymnasien auf weniger als die Hälfte bei der Matura zeigt den Unsinn einer vorzeitigen Schulwahl. Wieviele Schüler verlassen enttäuscht und vergrämt vorzeitig die Mittelschule? Sie tragen oft einen seelischen Schaden für das ganze Leben davon. Mit 14 Jahren ist der Charakter des Kindes wesentlich gereifter, die Entscheidung für die Weiterbildung viel stärker ausgeprägt.

Schon 1969 hat die österreichische Volkspartei ein Regierungskonzept für die siebziger Jahre beschlossen, in dem von Chancengleichheit und Chancenverbesserung die Rede ist. Ausdrücklich sollten die „Begabungsreserven” ausgeschöpft und die Bildungsmöglichkeiten durch Beseitigung regionaler und sozialer Bildungshindernisse verbessert werden. Fürwahr ein Grundzug demokratischer Bestrebungen auf bildungspolitischem Gebiete!

Daß nun in der gegenwärtigen Schulgestaltung jeder Schüler die entsprechende Schulgattung finde (Alfred Grinschgl, Schulreform als linkes Zwischenspiel, FURCHE Nr. 34), ist seltsam genug anzuhören, da gerade das Nichtfinden und Scheitern einer der Hauptgründe für die Ablehnung des alten Schulsystems ist, das übrigens für seine Zeit epochemachend im ganzen europäischen Raum gewesen ist. fc Es ist eine alte Schulerfahrung, daß es neben Allroundkönnern eine große Anzahl einseitig begabter Schüler gibt, die oft Spitzenreiter auf ihrem Gebiet sind. Daher die Schwerpunkte mit den „Leistungsgruppen”. Denn nicht jeder „Sprachgelehrte” ist ein ebenso guter Mathematiker, und nicht jeder „Naturwissenschafter” auch ein besonderer „Deutschmeister”. Jeder Schüler hat seinen Leistungsgrad, und daß es keine zwei Gleiche unter den Menschen gibt, ist eine Binsenweisheit, zu der es keiner Gelehrsamkeit bedarf.

Gleichmacherei und Niveausenkung sind üble Schlagworte, die nur Ärger bereiten. Sie sind nicht ernstzunehmen, da sie nirgends einen sachlichen Hintergrund finden, das Gegen teil ist der Fall. Denn die „Integrierte Gesamtschule” ist jener Schultyp, der zunächst alle regionalen, sozialen und Fähigkeitssackgassen beseitigt (Bildungsbahnentscheidung in höherem Alter) und dann bei den Hauptgegenständen (Deutsch, Mathematik, Fremdsprache) in „Leistungs gruppen” alle, also die mehr und die weniger Begabten, die Nieten und die Genies, die individuell bestmögliche Förderung erfahren.

20 Jahre habe ich begeistert unterrichtet, doch wie verhaßt war mir das Herum tifteln mit den Noten. Man ist ja keine Waage. Es wurde festgestellt, daß die Beurteilung der gleichen Leistung unter den Lehrern wie Tag und Nacht differiert. Geradezu albern die Ziffernmethode für Betragen, Fleiß, Religion, Turnen, Singen. Eine Beurteilung in Worten schien mir von jeher sinnvoller, als die Hieb- und Stichparade gestelzter Ziffern.

Von einer Entfesselung des Ehrgeizes durch Schularbeiten, Benotungen und der Gefahr des Versagens habe ich weder als Gymnasiast noch als Lehrer etwas beobachten können, um wieviel mehr aber die Seelennöte und Qualen gar vieler Schüler. Selbstmorde sind das Letzte Stadium, eine ganze Unglückswelt verzweifelter Ängste liegt dazwischen.”

Daß ungerechtfertigte Bevorzugungen schwacher Schüler aus gehobenen gesellschaftlichen Rängen Vorkommen, was soil’s? Ich habe als Schüler an meinem Gymnasium eine allen sichtbare Duldung eines lernunfähi- gen Professorensohnes erlebt - in der guten alten Kaiserzeit. Ein Phänomen? Eine Ungereimtheit, die durch ein entsprechendes Schulsystem zu entschärfen gewesen wäre.

Vor einigen Jahren war es mir vergönnt, in England an einer „Kompre- hensivschule”, unserer Gesamtschule, Deutsch zu unterrichten und Schüler und Lehrer bei ihrer Tätigkeit zu beobachten (1500 Schüler mit über 100 Lehrkräften und Erziehern). Arbeit, Geist und ein respektvoll kollegialer Umgang zwischen Lehrern und Schülern berührten angenehm.

Sport auf weitem Wiesengelände, bildnerische Versuche, Malerei, Musik (Geige, Flöte, Gitarre, Klavier - wo werden heute im Zeitalter von Radio, Tonband und Plattenspieler zu Hause und im Familien- und Geselligkeitsverband noch Gesang und Musik betrieben?) und Sternkunde im eigenen Observatorium, Studium in reichhaltiger Bibliothek und - mittags Speisen nach Wahl aus schuleigener Großküche. Um 16 Uhr mit Großautobussen heim.

Die häuslichen Lernbedingungen bei Arbeitern und Intelligenzberufen sind nun einmal sehr unterschiedlich. In der Gesamt- und Ganztagsschule wird allen Kindern, die es nötig haben, Lern- und Aufgabenhilfe geboten. Die Schüler mit den berufstätigen Eltern können nach Hause kommen und täglich eine rechte Familienatmosphäre genießen, ohne daß die Eltern mit der Mengenlehre, noch mit irgend einer ändern Schularbeit geplagt würden.

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