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Kann man heute noch rechts stehen ?

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In der „freien Welt des Westens“ hat sich scheinbar der Wind gedreht. Er weht jetzt von links her und in ihm flattern die Spruchbänder mit den neuen Fortschrittsparolen: Der Antimarxismus ist am Ende. Links ist, wo der Fortschritt stattfindet. Rechts davon stehen die Stopper des Fortschritts und die Rechtsradikalen. Wer die Dinge so sieht, der ist der Linkspropaganda schon auf dem größten Stück Weges gefolgt. Er verschließt sich der Tatsache, daß die Revolution nicht rechts, sondern links unterwegs ist. Er sieht nicht, daß die Linke mit Hilfe alter und neuer Bundesgenossen in die Macht geschleust wird. Und er darf nicht sehen, daß der an die Wand gemalte Teufel, der Rechtsradikalismus, an Auszehrung leidet.

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In der „freien Welt des Westens“ hat sich scheinbar der Wind gedreht. Er weht jetzt von links her und in ihm flattern die Spruchbänder mit den neuen Fortschrittsparolen: Der Antimarxismus ist am Ende. Links ist, wo der Fortschritt stattfindet. Rechts davon stehen die Stopper des Fortschritts und die Rechtsradikalen. Wer die Dinge so sieht, der ist der Linkspropaganda schon auf dem größten Stück Weges gefolgt. Er verschließt sich der Tatsache, daß die Revolution nicht rechts, sondern links unterwegs ist. Er sieht nicht, daß die Linke mit Hilfe alter und neuer Bundesgenossen in die Macht geschleust wird. Und er darf nicht sehen, daß der an die Wand gemalte Teufel, der Rechtsradikalismus, an Auszehrung leidet.

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Der Linkspropaganda allein wäre es nie gelungen, ein derartiges Image der Linken zu produzieren, hätten nicht die einmal von christlichen Demokraten ins Leben gerufenen Parteien das Ihre dazu beigetragen. Sie tun es einerseits dadurch, daß sie in verschiedenen Ländern politische Formeln und Modelle, die auf dem Boden der traditionellen marxistischen Parteien entstanden sind, übernehmen, und anderseits, indem sie auf eine womöglich „progressive“ Mitte einpendeln möchten, die imstande sein soll, die „Fortschrittlichkeit“ der Linken mitzumachen und von der aus rechts nur ein Rechtsradikalismus zu sehen ist.

Die dritte Welle

Für die Linke hat das Ganze den Vorteil, daß ihr stärkster Gegner der grundsätzlichen Alternative aus dem Weg geht und „linkisch dilettierend“ das Schema der Linken vielfach bestätigt. Dazu kommt, daß „Fortschrittlichkeit“ noch nichts über die Qualität der Produkte des Fortschritts aussagt. Erst die Unterschiede in den Zielen, Methoden und Typen des Politischen erklären und rechtfertigen die Polarität von links und rechts.

Vielen Zeitgenossen ist überhaupt nicht bewußt, daß nach Sozialdemokratie Und Kommunismus eine „dritte Welle der politischen Linken“ unterwegs ist. Es handelt sich dabei um ein Kräftepolygon, in dem Neue Linke und Neomarxismus nur Teile des Ganzen sind, dessen Kem eine „Philosophie im Anschluß an Marx“ ist. Das heißt: Es existiert — wenigstens vorläufig — noch keine neue politische Formation als Resultante des Polygons, sondern eine bestimmte Mentalität, engagiert für „links, wo der Fortschritt stattfindet“. Der neuen Welle der Linken ist es — vor allem mit Unterstützung ihrer Bundesgenossen — gelungen, wichtige geistige und moralische Positionen ihrer Gegner zu unterspülen. Welcher Hochschulprofessor möchte zum Beispiel angesichts des lautstarken sini- strisimo, der in vielen Professorenkollegien herrscht, einem Kollegen, der erklärtermaßen links steht, erwidern, er stünde nicht links, sondern rechts und er habe gute Gründe, dementsprechend politisch zu handeln?

Überall sind Zeitgenossen unterwegs, die überzeugt sind, es sei an der Zeit, „Vorurteile und Meinungen gegenüber Marxismus, Kommunismus und Sozialismus aufzugeben“ und am Nachholunterricht für eine fortschrittliche Lebensauffassung teilzunehmen. Für ein solches „Umdenken und Neudenken“ hat unter anderem der Neomarxismus ein „Bild des jungen Marx“ reproduziert. In diesem Bild ist von den Folgen der Machtausübung und der Gewaltanwendung des Spätmarxismus noch nichts zu sehen. Dieses Bild eignet sich besonders für das Engagement der Naiven oder — um mit Tschu En-lai zu sprechen — der jungen Studenten, die „nicht viel Erfahrung haben“ und „leicht zu verführen“ sind.

Die Heilsarmee, die die Ideen eines „humanen Kommunismus“, eines „freiheitlichen Marxismus“, eines „fortschrittlichen Sozialismus neuer Prägung“ usw. trägt, rekrutiert sich zum geringsten Teil aus den Kadern dėr traditionellen marxistischen Parteien oder aus den Nachhuten des sozialen Fortschritts. Die meisten kommen aus wirtschaftlich und sozial abgesicherten Schichten der Wohlstandsgesellschaft im Wohlfahrtsstaat. Vaters Monatswechsel und

Vater Staats Stipendien garantieren einen krisenfesten Typ des Revolutionärs, Modell 1970. Es sind Revolutionäre, unter denen das ansonsten verachtete patriarchalische Prinzip ebenso gilt wie die Autorität der great old men der Revolution: Georg von Lucas, Emst Fiseher, Herbert

Marcuse, Ernst Bloch und anderer Männer des 19. Jahrhunderts.

Es braucht nicht geschildert zu werden, wie die neue Welle in den USA, in Großbritannien und in den deutschsprachigen Ländern vor allem im Umkreis der „Freien Universität Berlin“ aufsprang. Seither ist die FU einer der wichtigsten Importhäfen des Amerikanismus der leftists. Hier konnte Marcuse unter dem aufgeregten Beifall der von allen guten Geistern im Stich gelassenen Studenten seine Heßslehre von der Totalzerstörung der Gesellschaft verkünden. Die neue Welle der Linken ist nicht dasselbe wie die Schwärme der Hippies, Gammler, Provos, Kommunarden, Neonihilisten, Neoanarchisten, Futuristen, Rauschgiftphilosophen usw. Diese Strömungen unterspülen aber die Fundamente und sie überziehen die europäische Kulturlandschaft dermaßen mit einem klebrigen Film, mit Schmutz und Unrat, daß der bezweckte Bruch mit der Kuilturtradition für gewisse Intellektuelle geradezu ein „Akt der Selbstreinigung“ zu sein scheint.

Die neue Welle der Linken — nicht nur die extravagante Neue Linke — propagiert eine „politisch engagierte Kunst“, und sie selbst wird von derlei Kunst in Kreise getragen, in denen sich Reste des alten Besitz- büngertums und ein neues Wohlstandsbürgertum auf ihren „soignier- ten Kunstgenuß“ etwas zugute halten. Das bedeutete einmal ein künstlerisches Erleben, das dem „rein Künstlerischen“ zugewandt, dem „Politischen in der Kunst“ abgewandt ist. Jetzt inhaliert dieses Kunstpublikum die neue Politliteratur, die Provokationen einer bildlosen bildenden Kunst, Schaustellungen eines Strip-tease-Thea- ters, Produkte der Pomofilm- kunst ebenso wie seine Söhne und Töchter zuweilen „Hasch“. Die Tatsache, daß es sich hier um die Erzielung eines politischen Effekts handelt, und das primär politische Bekenntnis derer, die das alles produzieren und reproduzieren, werden — wie man in Wien sagt — nicht einmal ignoriert. Selbstverständlich honoriert die Linke, wo sie im Establishment sitzt, diese Leistung: daß Staatsmänner, die sich in wirtschaftspolitischer Hinsicht auf ihre konservative Herkunft etwas zugute halten, ihrerseits dieses „unerhört Neue“ prämiieren, ist Teil jener alten Legende von den größten Kälbern.

Heute ist die neue Welle der Linken im Polit-Christentum des Links- katholiszismus ebenso präsent wie im Kommunismus der „Reformer“ der Oststaaten; sie durchsetzt die bürgerlichen Interessengenossen der Sozialdemokratie ebenso wie die sogenannte „proggressive Mitte“ der einmal von christlichen Demokraten gegriindeten Parteien; sie kommt an die Söhne und Töchter „aus guter Familie“ ebenso heran wie an Epigonen des liberalen und nationalen Lagers, wo man mit einer gekonnten Ziehung nach halblinks tadellos auf Vordermann kam. Überall, wo rechts von links so etwas wie eine „Entideologisierung“, genauer: ein Ge- sinnungs- und Richtungswechsel, stattfand, sickert die Welle in entstehenden Leerräume ein.

Dem entspricht jene politische Räson, wonach einer, der in den letzten zwanzig Jahren zwei- oder dreimal das Parteibuch wechselte, eine bemerkenswerte, unabhängige Persönlichkeit ist. Dem Marxismus, dem es seinerzeit auf dem Höhepunkt seiner theoretischen Entfaltung nicht gelang, seine Wirtschaftstheorie, seine Staats- und Gesellschaftslehre und seine Geschichtsauffassung angesichts der an ihm festgesteliten Irrtümer und Fehler allgemeine Geltung zu verschaffen, erreicht es in seiner Spätkrise, daß Menschen mit ehedem idealistischer oder religiöser Denkweise eine „Philosophie im Anschluß an Marx“ rezipieren. Lehrer an katholischen Hochschulen des Westens lassen die Katholiken, die noch „auf den Barrikaden“ stehen, lächelnd im Stich; treten so wie Bischöfe, Theologen und Intellektuelle in seltsame Begegnungen, Gespräche und Situationen ein, die für jene verwirrend sein müssen, die den Background der neuen Beziehung nicht kennen oder nicht kennen wollen. Und indem sich Standpunkte im Religiösen ändern, ändern sich Abstände und Reflationen dort, wo man bisher zum Beispiel in bezug auf den Katholizismus Positionen bestimmte. Neue Positionslichter leuchten in der Politik auf. So wie nach 1954 Faschismus und Nationalismus gleichgesetzt wunden mit Antisemitismus, wird 1970 Antimarxiismus (da und dort bereits grundsätzliche Gegnerschaft zur Linken) als Indiz für erneuten Rechtsradikalismus angesehen. Die neomarxistischen Studenten, die „faschistoide“ Elemente des Establishment mit faschistischen Kampfmethoden angredfen, werden darin vielfach von Angehörigen der älteren Generation unterstützt, die noch nicht zur Linken gehören, aber sagen: Antikommunismus, Antimarxismus und alles, was in diese Richtung geht, ist „Unkraut“, das in der Ära des kalten Krieges gewachsen ist, letzten Endes neuer Rechtsradikalismus.

Mit großem „Einsichtsvermögen“ wird Menschen, die „fortschrittlich denken möchten“, nahegelegt, jetzt endlich einzusehen, daß ihre Väter und Großväter irrten, als sie den Marxismus nicht annahmen. Denn: Antimarxismus ist nicht nur Anachronismus ex 1970, sondern ein „Irrtum vom Anfang“ an. Nach dieser Version wird mit Hilfe der Massenmedien die Geschichte umgekrempelt und neu geschrieben.

Das „Umdenken“ und „Neudenken“ wird emotionell angeregt. Mit Ergriffenheit hören die Konvertiten der Linken auf die Sprache und auf die Bekenntnisse der „Reformer“, der „Exkommunisten“, der Kenner vom Fach, die beschreiben, wie beklagenswert die Irrtümer der Vergangenheit, ihrer Vergangenheit, sind. Es ist das alte Lied, das seit der Abweichung Leo Trotzkis jeder Abweichler singt: Die Klage über den Tod der alten Gesinnungsgenossen, die im Kampf gegen Stalin und Konsorten umkamen; von den „anderen“, die im Widerstand gegen den Marxismus fielen, ist keiner zuviel gestorben; sie verfaulen rechtens unter dem Beton der Welt nach 1917/18.

Es gibt eine Demarkationslinie im Schlammeer der Ideologien, die auch heute noch hält. Sie ist nach der Formel des französischen radikalen Linksliberalismus gezogen: „II n’y a pas d’ennemi ä gauche“, links gibt es keinen Feind. Um so eifriger suchen jene, die heute links keinen Gegner meihr sehen, den Gegner rechts; denn rechts kann nur ein Rechtsradikaler stehen, rechts ist kein Platz für anständige, gebildete, humane, religiöse und moderne Menschen. Links findet der Fortschritt statt, rechts schwelt ein neuer Radikalismus, der den Fortschritt gefährdet.

Wie schaut der Fortschritt aus, in dessen Besitz die Linke voranstürmt, während die Rechte „wie ein kläffender Hund“ nachläuft? Das heute im Gebrauch befindliche Modell der Demokratie ist mehr als 200 Jahre alt; das parlamentarische Ritual ist noch älter; die Vorstellungen vom Staate haben sich hoffnungslos in die Zwiespältigkeiten Hegels verheddert; die Wirtschaft laboriert am System des Staatskapitalismus und an Formen der Interessenvertretung, die in der Ausgangstage des Klassenkampfes entstanden; die Sozialpolitik ist individualistisch ausgerichtet, sie hat die Statusprobleme des „Dritten Lebensalters“, des jungen Menschen, der Familie im Industriesystem usw. noch kaum erfaßt; das Bildungssystem hinkt in dem mit Sozial- und Wirtschafts aufgab en überbürdeten Staat nach; die Agrarwirtschaft findet im industriellen System der Produktivitätssteigerung keinen Platz; die internationale Politik ist durch national-staatliche Anschauungen blockiert, die aus der Zeit des Westfälischen Friedens stammen.

Und angesichts dieser und anderer Gegenwartsprobleme soll es keine andere Zukunft geben als jene, die die Linke offeriert?

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