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Kardinal Lekais Erbe

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Das „Interregnum“ nach dem Tod des Primas, Kardinal Läszlö Lekai, ist Anlaß zu einer Bilanz der katholischen Kirche Ungarns: über ihr Soll und Haben, ihre Chancen und Aufgaben in der Zukunft.

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Das „Interregnum“ nach dem Tod des Primas, Kardinal Läszlö Lekai, ist Anlaß zu einer Bilanz der katholischen Kirche Ungarns: über ihr Soll und Haben, ihre Chancen und Aufgaben in der Zukunft.

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Vieles hört man vom ungarischen Katholizismus. Gutes und Schlechtes. Hoffnungsvolles und Enttäuschendes. Verwirrende Widersprüche: Weder die Ungarn noch ausländische Sachkenner können sie so leicht in Ordnung bringen. Kirchenverfolgung und eine schweigende Kirche? Oder: gute, für manche sogar die bestmöglichen Beziehungen zwischen Kirche und Staat? Zerfall und Niedergang der Kirche? Oder: Aufbruch und Erneuerung? Belege lassen sich für sämtliche Auffassungen finden.

Soziologen sprechen von drei Phasen der neuesten Kirchengeschichte Ungarns. Die Jahre des Kirchenkampfes und des Perso-

nenkultes zwangen die Kirche zur Konfrontation. Aller öffentlichen Erscheinungsmöglichkeiten beraubt, in „Kirche und Sakristei gesperrt“, versuchte sich die Kirche abzuschotten - und geriet ins Ghetto. Die Katakombenchristen dieser Zeit haben mit viel Mut und Selbstaufopferung für die Existenz der Kirche gesorgt und eine Kontinuität ermöglicht. Sie haben aber häufig selbst unheilbare Schäden davongetragen. Im unterirdischen Leben können die

Sehnerven verkümmern. Im Käfig bleiben die Flügel schwach. Die Leidtragenden, aber auch Helden dieser Zeit erreichten ihre Hauptaufgabe, die Fortführung des katholischen Lebens, verloren aber ihren Evangelisierungsauftrag für Außenstehende aus dem Blick.

Die zweite Phase brachte—nach dem 56er Aufstand — politische Stabilisierung, wirtschaftlichen Aufschwung und eine Öffnung zur Welt. In der Kirche zerbrök-kelten die Ghettomauern. Weder die Christen noch die Amtskirche waren aber auf eine pluralistische Zeit vorbereitet gewesen. Die zunehmende Freiheit haben sich viele genommen—und blieben aus der Kirche fern. Keineswegs, um nun gute Marxisten zu werden, sondern um dem Mammon zu huldigen.

Im Streit zwischen Christentum und Marxismus blieb die Kon-sümhaltung die lachende Dritte. Ideologiemüde und mißtrauisch allen Institutionen gegenüber, kümmern sich viele Millionen Ungarn nur noch um ihr privates Glück. Individualismus? Egoismus? Innere Emigration? Eine gute Portion Enttäuschung ist sicher auch mit dabei.

Der Zerfall der herkömmlichen Religiosität ging in Ungarn in den sechziger und frühen siebziger Jahren mit ungewöhnlicher Heftigkeit voran. Die Marxisten sahen die alten Voraussagen bestätigt: Die Religion stirbt ab. Die Daten des Niederganges ließen die Prognose zu: Die christliche Religion würde gegen 2015 in Ungarn nur noch in musealen Restbeständen vorhanden sein.

Die Beweise waren bezwingend. Die Taufquoten sanken von 100 auf 66 bis 68 Prozent. Der Kirchgängeranteil fiel von 50 bis 70 auf acht bis zehn Prozent. Sogar an Feiertagen wie Weihnachten und Ostern gehen nur noch 30 bis 34 Prozent der erwachsenen Christen in die Kirche. Die Zahl der Priester sank auf etwa die Hälfte,und ihre Altersstruktur läßt eine weitere Abnahme voraussagen.

Einerseits ist also in dieser Phase eine große Gruppe entstanden, die wirklich keine Beziehungen zu Religion und Kirche hatte. Die Verbannung des Religiösen aus dem öffentlichen Leben konnte erreichen, daß solche Leute nun auch nicht die elementarsten Kenntnisse von der christlichen Tradition haben, Christus mit Buddha verwechseln, ernstlich über die Zahl der Evangelien - ob drei oder vier — diskutieren und je nach Geschmack die Frohbotschaft als Volksverdummung oder als exotische letzte Chance verstehen.

Phase der Auflehnung

Anderseits ist die Amtskirche, oder auch konkreter: die kirchliche Organisation, soweit zerfallen, daß sie ihren fundamentalsten Aufgaben nicht gerecht werden kann. Die religiöse Kindererziehung ist nur in den Familien der eifrigsten, nicht aber institutionell in der Kirche gesichert. Die ehemalige Volkskirche konnte sich weder zu einer organischen-gemeinschaftlichen noch zu einer technokratisch durchorganisierten Kirche mausern. Sie ist ein Sammelbecken fast ganz ohne gemeinschaftsstiftende Kraft. Schließlich, trotz des großen und wachsenden Bedarfes nach religiöser Information (und Verkündigung), werden kaum Wege und Instrumente gebaut und geschaffen, um NichtChristen zu erreichen.

In dieser zweiten Phase sind die Grundlagen zu einer Befriedung von Kirche und Staat gelegt worden, ohne allerdings die Zerfallserscheinungen wahrhaben zu wollen. Die Kirche sprach vom „Zeitgeist“, von „international geltenden Wandlungsprozessen“ und von einer Kirchengeschichte, deren Zeit in Jahrtausenden zu bemessen ist — und setzte sich damit über alle aktuellen Probleme hinweg.

Eine dritte Phase erwuchs in Auflehnung gegen diese kurzsichtige Unbekümmertheit. Die Mängel, die die Amtskirche nicht sehen wollte oder nicht zu beheben in der Lage war, zwangen die einzelnen zum Handeln — sofern sie ihre Kinder religiös erziehen wollten, sofern sie selbst ein zeitgemäßes Christentum praktizieren wollten, sofern sie glaubwürdig, vor ihren Kollegen und Bekannten, ihr Christsein vertreten wollten.

In dieser Zeit werden in der profanen Öffentlichkeit soziale Probleme aller Art erkannt und besprochen. Die Christen werden sich ihres Minderheitenstatus bewußt. Es erwächst die Einsicht, daß das Vorhandene nicht zu einer vollwertigen christlichen Existenz ausreicht: Es müssen neue Lebensformen und neue Kirchenformen geschaffen werden.

Die christliche Jugend entdeckt die neue Musik als Medium des religiösen Ausdrucks. Neben importierter Musik werden Hunderte neue Texte und Melodien in Ungarn geschrieben. Andere wieder versuchen, ihre Gedanken über religiöse Themen schriftlich zu fixieren. Es entsteht eine Literatur, die zwar nicht gedruckt werden kann — teils aus finanziellen Gründen, teils mangels einer Genehmigung -, nichtsdestoweniger vervielfältigt und gelesen wird. Es entstehen Tausende von kleinen Gruppen zum Gebet, zum gemeinsamen Lernen, zu gemeinsamer Lösung von karitativen Aufgaben — und vor allem, um die Gemeinschaft miteinander und mit Jesus zu erleben.

Vorkriegskatechismen

Doch bleibt noch die Frage der Kommunikation miteinander und mit der Amtskirche. Das dürfte eine der Hauptaufgaben der Zukunft sein. Und die andere: die Etablierung einer christlichen Intelligenz, von dienstbereiten Intellektuellen, die den Traditionallsmus beheben könnten. Die kulturelle Aushungerung der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten brachte schwere Schäden. Noch 1985/86 konnte man (mußte man?) Vorkriegskatechismen publizieren, die alte Pfarrer sogar begrüßt haben. Zu den dringendsten Aufgaben gehört die Öffnung der Fenster vor den Ideen des II. Vatikanischen Konzils.

Die Brücken zur profanen Kultur und zu den Nichtchristen werden nur von einzelnen und sehr langsam gebaut.

Es fragt sich nur, ob durch Kleingruppenentwicklung und neue Oberstrukturen religiöse Kultur und christliche Intelligenz gefördert oder gebremst werden, gestoppt können sie nicht werden. Die dritte Phase der ungarischen Kirchengeschichte hat Kräfte freigesetzt, die die Zukunft bringen.

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