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Karl Kraus heute

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Als er starb, war er fast schon vergessen. Es hätte des Boykotts durch das NS-Regime nicht bedurft, um ihn dem Bewußtsein der unmittelbaren Nachwelt zu entfremden. Selbst seine Bewunderer wagten nicht an seine Wiederkehr zu glauben, zu sehr schien sein Wirken an den vergänglichen und vergangenen „Stoff“ gebunden. Ein einziger hat von Anfang an unbeirrbar an die säkulare Wirkung der Schriften von Karl Kraus geglaubt: Kraus selbst.

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Als er starb, war er fast schon vergessen. Es hätte des Boykotts durch das NS-Regime nicht bedurft, um ihn dem Bewußtsein der unmittelbaren Nachwelt zu entfremden. Selbst seine Bewunderer wagten nicht an seine Wiederkehr zu glauben, zu sehr schien sein Wirken an den vergänglichen und vergangenen „Stoff“ gebunden. Ein einziger hat von Anfang an unbeirrbar an die säkulare Wirkung der Schriften von Karl Kraus geglaubt: Kraus selbst.

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Als man dem Sterbenden, der sich über seinen Arzt beklagte, vorhielt, daß er „auch ihm Unrecht“ tue, sagte er: „Wem habe ich denn je Unrecht getan?!“ Bis an sein Ende fühlte er sich im Recht und nicht nur dieses Recht-Habens bewußt, sondern auch des Recht-Behaltens über das physische Ende hinaus. Der Tag, der Anlaß, der Stoff, schien in paradoxer Umkehrung für ihn eher die unmittelbare als die dauernde Wirkung zu belasten. („Wenn mich etwas bange machen könnte, so beträfe es weit eher mein Leben als mein Fortleben, indem ich zuversichtlich hoffe, daß die Naohwelt... sich weit weniger ordinär benehmen wird als die Welt...“ („Die Fackel“, 1930) Er hat recht behalten.

Wer außer ihm selbst hätte gedacht, daß nicht nur die kleinen Objekte seiner Polemik: Hans Müller, Alice Schalek, Otto Ernst bald vergessen und nur noch in den „Letzten Tagen der Menschheit“ existent bleiben würden, daß der „Spitzgreis“ Shaw sich zwanzig Jahre nach seinem Tod überlebt haben und von Karl Kraus überlebt sein werde?!

Er war in zweifachem Sinn ein Prophet: im heiligen Furor des Wirkens für seine gerechte Sache, für die Sprache, gegen die Phrase und die Lüge, und im Voraussagen bleibender Werte. Man neigt dazu, sein großes Ja nicht gebührend wahrzunehmen, da er immer wieder so viele unbarmherzig gegeißelt, verhöhnt, satirisch vernichtet hat. Doch sein Ja galt nioht nur Goethe und Shakespeare: Er hat Ja zu Adalbert Stifter gesagt, als dessen Werk noch unerkannt, kaum recht vorhanden war, er hat die Nestroy-Renaissance unseres Jahrhunderts vorweggenommen, wenn nicht ausgelöst, er hat Georg Trakl und Else Lasker-Schüler entdeckt, er hat sich für Strindberg, Wilde, Wedekind eingesetzt, er hat Adolf Loos begeistert anerkannt, er hat sich Peter Altenberg zuliebe sogar zu einem Waffenstillstand mit dem fanatisch bekämpften Fischer-Verlag durchgerungen.

Und wenn er auch gewiß ein echter Prophet war, kann man bedauerlicherweise doch in seinem Ja und seinem Nein zu den Zeitgenossen keinen Kanon sehen. Er hat immer wieder, aber nicht immer recht behalten. Ob seine Abwertung des Schauspielers Josef Kainz berechtigt war, wird man nie entscheiden können; aber man darf und soll heute sagen, daß er Gustav Klimt verkannt hat, daß er Arthur Schnitzler nicht gerecht zu sehen vermochte, daß er vor allem aber in der Einschätzung Sigmund Freuds katastrophal geirrt hat. Hier ist im Karl-Kraus-Bild ein sehr dunkler Punkt, der nicht wegretouchiert werden darf; und vielleicht wird noch einmal klar werden, was um 1910 aus dem Bewunderer Freuds einen Feind und Verhöhner gemacht hat.

Man bedauert diese (und auch andere) Fehlurteile, man leidet unter ihnen, aber man darf sie nicht überbewerten und darf sich durch sie in der Treue zu Karl Kraus nicht beirren lassen.

Denn auch seine Reserve Arthur Schnitzler gegenüber und seine Feindschaft gegen Sigmund Freud ist „Stoff“, und: „Was vom Stoff lebt, stirbt vor dem Stoffe. Was in der Sprache lebt, lebt mit der Sprache“ („Die Fackel“, 1909).

Die Wiederkehr der Schriften von Karl Kraus ist der Erweis einer Erkenntnis, die uralt ist, sich an diesem Oeuvre und seiner Wirkungsgeschichte aber ganz besonders deutlich offenbart: nicht der Stoff und nicht die Form, nur der Geist entscheidet, ob Kunst oder Nicht-kunst vorliegt.

Dies lehrt uns Karl Kraus heute, doch nicht nur dieses. Auch daß man ein Leben lang Österreich und Wien vernichtend kritisieren und doch ein großer Österreicher gewesen sein kann, der Österreich liebte und aus dieser Liebe heraus an Österreich litt... und der im Abschied, in äußerster Einsamkeit, in tragischer Verlassenheit, scheinbar verleugnete und doch in Wahrheit sich treu blieb, indem er seine Wendung zum Patrioten vollzog, auch darin prophetisch, daß er im Untergang der dreißiger Jahre die Auferstehung von 1945 vorwegnahm.

Wo immer er zu hassen schien, auch wenn er sich ausdrücklich als Hassender bekannte, war er ein verhinderter, ein verkannter Liebender. Seine Stimme im Vortragssaal konnte advokatorisch schneidend klingen und sich zum donnernden Pathos des Anklägers steigern, aber wie zart, wie zärtlich klang sie oft aus reinen Sphären herüber, die nur Liebe und Mitleid kennen.

Wer sich ihm nahe wähnte, wer sein vielfaches Ja inmitten des dominierenden, scheinbar allgegenwärtigen Nein stets mithörte, meinte, ihn ganz zu kennen. Doch da sich nun ein Jahrhundert seit seiner Geburt vollendet, öffnet sich ein neuer Zugang zu Karl Kraus, ein Blick auf ihn aus ungewohnter Perspektive: neben dem Wort tritt uns der Mensch, der Mann Karl Kraus vor Augen. Wir haben ihn doch nicht gekannt.

Viele wesentliche und werbvolle Zeugnisse und Dokumente gingen verloren und wurden zerstört. Aber seine Briefe an Sidonie von Nädherny wurden bewahrt und können nun gelesen werden Die Karl-Kraus-Biographie und die Kraus-Deutung müssen sozusagen noch einmal von vorn anfangen.

Man meinte, daß sein Leben sich im Werk erfüllte, daß seine Biographie mit dem Index der „Fackel“ und der Liste seiner Vorlesungen identisch sei. Und man sieht heute erst, wer er gewesen ist und wie er gewesen ist, wie er auch als Liebender und Geliebter nach dem Perfekten und dem Absoluten strebte, wie er — der wie kaum ein anderer berechtigt gewesen wäre, egozentrisch zu sein — dabei aber nicht sich, sondern die geliebte Frau absolut setzte. Und wenn auch die Pedanterien und Zwangsneurosen mit in das Bild kommen, wird er dadurch nicht verkleinert. Was man zwischen den Zeilen der „Fackel“ und in den „Worten in Versen“ ahnen konnte, wird nun deutlich und deutbar. Was uns an seiner Stimme zart und zärtlich bis heute in den Ohren klingt, spricht aus dieser Fülle von Briefen, Karten, Telegrammen, sein Alltag vor dem Krieg, im Krieg, nach dem Krieg, seine Güte, sein Mitleid, seine Caritas. Der Unbarmherzige erweist sich als nachsichtig und geduldig, der seiner Sendung Bewußte als lenkbar und rücksichtsvoll bis zur Selbstaufgabe, der große Prophet als in seiner Produktivität, von Briefen, Anrufen, Anwesenheiten, gelegentlich auch Launen einer Frau abhängig, an der er ganz im Stil des Kavaliers alter Schule bedingungslos hing. All dies verkleinert ihn nicht, es gibt seiner Größe erst die entscheidenden Dimensionen.

Ohne diese Briefe hätte man das Zentenarium zum Anlaß nehmen können, um Karl Kraus als einen gesicherten Besitz anzusehen und zu feiern. Angesichts dieser Briefe scheint es, als werde das Karl-Kraus-Bild erst im beginnenden zweiten Jahrhundert zu sehen sein.

An seinem Sterbehaus, Wien IV., Lothringerstraße, ist seit vielen Jahren eine Gedenktafel zu sehen. Seine Schriften wurden von zwei Münchener Verlagen neu aufgelegt und sind auch als Taschenbücher verbreitet. Eine in Wien gegründete Karl-Kraus-Gesellschaft gibt kein Lebenszeichen von sich. Die ausgezeichnete rororo-Monographie von Paul Schick ist vergriffen. Die Wiener Stadtbibliothek und das Museum der Stadt Wien verwahren Dokumente und Zeugnisse von und über Karl Kraus. Die österreichische Postverwaltung hat zur Jahrhundertfeier eine wohlgelungene Sonderbriefmarke ausgegeben. In Wien wurde keine Straße, kein Gemeindebau, kein Park nach ihm benannt.

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