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Karl Mays „Winnetou“ bleibt Spitzenreiter

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Die „Hitparade“ der Lieblingsbücher von Österreichs Zehnjährigen führt Karl Mays unverwüstlicher „Winnetou“ überlegen an. In der Rangliste der beliebtesten Titel folgen Enid Blytons „Fünf-Freunde“-Bände, James Fenimore Coopers „LederstrumpfJohanna Spyris „Heidi“, Daniel Defoes „Robinson Crusoe“, Erich Kästners „Das doppelte Lottchen“ und Sandwall-Bergströms „Gulla“-Bände. Das ist eines der zahlreichen interessanten Ergebnisse einer von Dr. Richard Bamberger und Dr. Lucia Binder vom Internationalen Institut für Jugendliteratur und Leseforschung zusammen mit Dr. Erich Vanecek vom Psychologischen Institut der Universität Wien durchgeführten Untersuchung zum Leseverhalten, zur Leseleistung und zu den Leseinteressen, die „Zehnjährige als Buchleser“ - so der Titel der kürzlich im Verlag „Jugend und Volk“ erschienenen Studie - an den Tag legen.

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Die „Hitparade“ der Lieblingsbücher von Österreichs Zehnjährigen führt Karl Mays unverwüstlicher „Winnetou“ überlegen an. In der Rangliste der beliebtesten Titel folgen Enid Blytons „Fünf-Freunde“-Bände, James Fenimore Coopers „LederstrumpfJohanna Spyris „Heidi“, Daniel Defoes „Robinson Crusoe“, Erich Kästners „Das doppelte Lottchen“ und Sandwall-Bergströms „Gulla“-Bände. Das ist eines der zahlreichen interessanten Ergebnisse einer von Dr. Richard Bamberger und Dr. Lucia Binder vom Internationalen Institut für Jugendliteratur und Leseforschung zusammen mit Dr. Erich Vanecek vom Psychologischen Institut der Universität Wien durchgeführten Untersuchung zum Leseverhalten, zur Leseleistung und zu den Leseinteressen, die „Zehnjährige als Buchleser“ - so der Titel der kürzlich im Verlag „Jugend und Volk“ erschienenen Studie - an den Tag legen.

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Neben den bereits genannten Schriftstellern sind vor allem Astrid Lindgren („Pippi Langstrumpf'), Marlen Haushofer („Bravsein ist schwer“), Teddy Parker (TV-Serien: „Bonanza“, „Fury“, „Flipper“), Mira Lobe („Die Omama im Apfelbaum“), Mark Twain („Tom Sawyer und Huckleberry Finn“), Otfried Preußler („Die kleine Hexe“), Auguste Lechner („Dolomitensagen“), Eric Knight („Lassie“) und Robert Louis Stevenson („Die Schatzinsel“) bei dieser Altersgruppe sehr beliebt. Es überrascht kaum, daß die meisten der favorisierten Autoren entweder seit Jahrzehnten bekannt sind oder durch werbewirksame Fernsehserien Eingang in die Bücherschränke der Zehnjährigen fanden.

Was Bamberger aber echt überraschte, war die Tatsache, daß von den 2398 befragten Kindern-jedes durfte bis zu fünf Lieblingsbücher nennen - insgesamt 3197 verschiedene Buchtitel angegeben wurden, davon allerdings nur 83 mehr als zehnmal. Nach Ansicht Bambergers befinden sich von allen genannten Titeln maximal 20 Prozent derzeit auf dem Buchmarkt, der Rest muß den Kindern von ihren Eltern oder sogar Großeltern „vererbt“ worden sein. Eine Erkenntnis, die jene, die ständig gute neue Bücher propagieren, nicht sehr glücklich macht, zumal auf diese Weise etliche verstaubte und eher wertlose „Ladenhüter“ weitergereicht werden. Auf die eingangs er-

wähnten Spitzenreiter trifft dieser Vorwurf weniger zu, denn die meisten dieser Bücher erleben ja laufend Neuauflagen.

Jedenfalls zeigte sich, daß die Kinder reellen Erzählungen (63,6 Prozent) vor irrealen Erzählungen (12,2 Prozent), irrealen Erzählungen mit realen Komponenten (11 Prozent), Tiergeschichten (8,7 Prozent) und Sachbüchern (4,1 Prozent) eindeutig den Vorzug geben. Eine Analyse der meistgenannten Bücher ergab, daß folgende sechs Eigenschaften eine entscheidende Rolle spielen dürften, um ein Buch in den Augen eines Zehnjährigen interessant erscheinen zu lassen: Spannung, ein starker emotioneller Anspruch, abenteuerliche Handlungselemente, Humor (einschließlich Situationskomik), Anschaulichkeit und Lebendigkeit der Darstellung, geringer Schwierigkeitsgrad.

Bei der Untersuchung der Leseleistung der Kinder, des Leseumfanges, der Lesegeschwindigkeit und der Inhaltserfassung, bekamen die Autoren der' Studie bestätigt, was bisher nur vermutet werden konnte: Leseleistung und sprachliche Leistung - etwa die Qualität von Aufsätzen, die Verwendung seltener Wörter im aktiven Wortschatz - gehen Hand in Hand. Wer am meisten liest, schreibt in der Regel auch die besseren Aufsätze. Etwas überraschender kommt vielleicht das Ergebnis, daß schnelle Leser (das sind

nur rund 25 Prozent der Kinder) auch die beste Inhaltserfassung haben. Bedenklich scheint die Tatsache, daß 50 Prozent der Zehnjährigen (darunter fast alle Schüler des zweiten Klassenzuges der Hauptschule) nicht als „buchreif' zu bezeichnen sind, weil sie das dafür angesetzte Limit von 150 Wörtern pro Minute nicht erreichen.

Die Studie gibt auch Aufschluß über den Buchbesitz der Zehnjährigen. Demnach besitzt ein Kind dieser Altersstufe im Durchschnitt 23,5 Bücher. Allerdings gehören einem Drittel der befragten Kinder weniger als 10 Bücher, die meisten haben 10 bis 30 Bücher, 25 Prozent der Zehnjährigen sogar mehr als 30. Grundsätzlich konnte man feststellen, daß die Zahl der eigenen Bücher in der Regel mit der Größe des Wohnortes des Kindes wächst. Für den Buchbesitz des Kindes dürften nicht nur die materiellen Verhältnisse, sondern auch die Bildung der Eltern entscheidend sein. Die meisten Bücher besitzen die Kinder von Angestellten, Selbständigen und Beamten, die wenigsten die Sprößlinge von Arbeitern und Bauern. Im Durchschnitt haben die Schüler der AHS dreimal so viele Bücher wie die Hauptschüler.

Dr. Bamberger betont jedoch, daß für die Lesefähigkeit vor allem die Zahl der gelesenen Bücher wichtig ist: „Die Heranbildung eines Lesers erfolgt nicht durch privaten Buchbesitz, denn es gibt in jeder Schicht zu wenig Bücher. Ich appelliere vor allem an die öffentliche Hand, mehr Geld für Büchereien auszugeben. Ich appelliere an die Eltern, das Elternjahrbuch zu lesen und sich über gute Bücher zu informieren. Und ich appelliere an die Massenmedien, sich endlich auch in Österreich mehr um die Jugendliteratur zu bemühen, wie es etwa in ausländischen Presseorganen - .Frankfurter Allgemeine Zeitung', ,Neue Zürcher Zeitung', ,Die Zeit', .Times' - schon der Fall ist.“

Ohne die Mithilfe der Eltern und der Schulen bleiben natürlich alle Bemühungen des Buchklubs und des Instituts für Jugendliteratur und Leseforschung, alle Empfehlungslisten für wertvolle Bücher Stückwerk. Der an den Schulen bereits eingeführte Leserpaß leistet wertvolle Dienste bei der Erfassung des Leseumfanges und der Lesegeschwindigkeit der Kinder, die alljährlich vergebenen Kinder- und Jugendbuchpreise lenken die Aufmerksamkeit auf gute moderne Literatur in der jeweiligen Altersstufe.

Mit den weltweiten Trends in der Jugendliteratur hat Dr. Bamberger keine allzu große Freude. Während im Ostblock die Jugendbücher um so phantasievoller, lyrischer, romantischer zu werden scheinen, je mehr im Westen Politik und Zeitgeschichte an Boden gewinnen, zeigen sich von Skandinavien her Tendenzen einer „Enttabuisierung“ auch im Jugendbuch, ein Einbeziehen von sexuellen Problemen, und in Amerika mehren sich ebenfalls Problembücher (über Drogen, Prostitution, Außenseiter der Gesellschaft). Bamberger und Binder hoffen und erwarten aber gleichermaßen, daß diese trostlosen Werke bei uns nicht Fuß fassen können.

Während die Initiatoren der abgeschlossenen Studie über zehnjährige Buchleser nun eine ähnliche Untersuchung bei Vierzehnjährigen durchführen, sehen sie ein Ziel darin, unter mehreren inhaltlich ähnlichen Büchern jene mit dem meisten Tiefgang, der besten Personencharakteristik und den entsprechenden Anforderungen an die Leser (Bamberger: „Kinder kann man nur fordern, indem man sie fordert!“) herauszustellen. Oder genauer gesagt: Eher seichte Bücher, wie die der sehr beliebten Enid Blyton, sollten durch die pädagogisch wertvolleren Werke etwa einer Marlen Haushofer verdrängt werden. Ob alle Empfehlungen und Wünsche der Jugendbuchexperten mit der Zeit Erfolg haben, bleibt abzuwarten. Denn Kinder haben manchmal einen ganz anderen Geschmack als die Fachleute erwarten. Und bis zu einem gewissen'Grad ist das vielleicht sogar gut so.

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