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Karriere, Geld — ein Schuldgefühl

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Es ist 2 Uhr nachts. Die El-Al-Ma- schine aus Wien ist auf dem Flughafen „Ben Gurion“ gelandet. Als erster kommt ein alter Jude mit wallendem Bart die Rolltreppe hinunter. Er hat Tränen in den Augen und kaum berühren seine Füße das Rollfeld, kniet er nieder und küßt die Erde des Heiligen Landes. Der Traum seines Lebens ist in Erfüllung gegangen. Nun kann er hier in Ruhe sterben. Er und noch weitere 150 Neueinwanderer aus der Sowjetunion sind soeben im Land ihrer Väter und Hoffnungen angekommen.

Wenige Stunden später, auf demselben Flughafen, verlassen drei junge Männer, einer von ihnen mit seiner Frau, ihr Heimatland. Es sind dies ein Arzt, ein Maschinenschlosser und ein Möbeltischler. Alle drei fliegen mit einer CPA-Maschine direkt nach Montreal. Sie wollen ihr Glück in Kanada versuchen und vielleicht eines Tages, wenn sie viel Geld verdient haben, nąch Israel zurückkehren. Alle drei sind in Israel geboren, hier erzogen, haben in der Armee gedient und gekämpft. Jetzt haben sie sich der großen Armee der Auswanderer angeschlossen.

Das Problem der Auswanderung bestand immer, schon seit Beginn der jüdischen Einwanderung am Ende des 19. Jahrhunderts. Im Jahre 1948, kurz nach Staatsgründung, als Israel nur 550.000 jüdische Einwohner hatte, erklärte der inzwischen verstorbene Ministerpräsident David Ben Gurion: „Wenn es hier eine Million Juden geben wird, werden wir uns viel besser gegenüber den 100 Millionen Arabern behaupten können.“ Inzwischen gibt es bereits drei Millionen Juden in Israel. Doch auch weiterhin ist jeder Neueinwanderer wichtig. Das Land, das mit schweren Sozial- und Wirtschaftsproblemen zu kämpfen hat, ist auf jeden Juden angewiesen. Heute, 27 Jahre nach seiner Gründung, ist die Existenz dieses Staates nicht besser gesichert als damals. Jeder wehrfähige Mann muß bis zu seinem 55. Lebensjahr in der Armee dienen und in Friedenszeiten müssen die meisten auch mindestens einen Monat lang im Jahr Reservistendienst leisten. Jeder Neueinwanderer hat eine Familie, jede Familie hat Kinder und alle zusammen helfen sie mit, die schwere Bürde der Verteidigung zu erleichtern, so daß jeder Jude in Israel auch automatisch zur Sicherheit des Staates beiträgt.

Die dauernde Herausforderung durch die Diskussionen um die Existenzberechtigung des Staates Israel und damit indirekt um die Existenzberechtigung eines jeden der hier Lebenden, erzeugt eine Spannung, die in Ländern wie Deutschland, Österreich oder der Schweiz völlig unbekannt ist.

Doch ist Israel auch der einzige Ort auf dieser Welt, an dem sich ein Jude als Jude nicht nur der Religion, sondern auch der Nation nach identifizieren kann und mithilft, eine eigene neue und zugleich uralte Nation aufzubauen. In allen Ländern der Diaspora bedeutet Jude-Sein nichts anderes als ein religiöses Bekenntnis, auch wenn viele in dem Begriff Jude darüber hinaus etwas besonderes sehen. Da die Umgebung nicht immer bereit ist, Juden als gleichwertige Mitbürger anzuerkennen, identifiziert sich eine große Anzahl der Juden in der Diaspora mit dem Staate Israel. Diese Identifizierung ist auch darin begründet, daß die Judęn selbst, neben ihrer Verbundenheit mit den Heimatländern, noch eine besondere Beziehung zu ihren Glaubensbrüdern haben. (Die Minderheit der Juden, die sich ostentativ nicht mit Israel identifizieren, nimmt eben dieser Glaubensverbundenheit wegen eine völlig anti-israelische Haltung ein.) Doch den Anforderungen eines Lebens in Israel sind viele nicht gewachsen.

Heute gibt es 200.000 bis 250.000 israelische Auswanderer. In New York, Los Angeles, San Francisco und London sind ganze Viertel von Israelis bewohnt. Die Versuchung ist groß: Leben doch über sechs Millionen Juden in den USA, Hunderttausende in Europa, ohne der dauernden Gefahr für das eigene Leben und das Leben der Kinder ausgesetzt zu sein. Dies ist mit einer der Gründe dafür, daß etwa ein Drittel der Neueinwanderer aus der Sowjetunion in Wien, vor ihrer Einwanderung nach Israel, abspringt.

In Kriegs- und Krisenzeiten steigen die Anforderungen an jeden einzelnen noch um ein Vielfaches. Vielleicht ist damit die Tatsache zu erklären, daß die Zahl der Auswanderer nach dem Yom-Kippur-Krieg um das Dreifache gestiegen ist und sich im Jahre 1974 auf über 20.000

belaufen hat. Es handelt sich hier zum größten Teil um junge Leute, zumeist Fachleute aus „guten“ Berufen mit denen man leicht auch irgendwo im Ausland weiterkommen kann.

Das Problem der Auswanderung ist ein dauerndes, aber nach dem Yom-Kippur-Krieg wurde es besonders akut. Immer mehr junge Leute stellen sich Fragen, auf die sie keine Antwort wissen: Wird es jemals Frieden geben? Müssen auch meine Kinder in den Krieg ziehen? Hat dieser Staat Aussichten, zu existieren? Und dann ist da die Anziehungskraft des Auslandes — große Länder mit mehr Möglichkeiten, Karrieren, die man in einem kleinen Land nie machen kann, offene Grenzen und keine Angst vor einem bevorstehenden Krieg.

Freilich, wenn es wieder zu einem Krieg kommt, wollen sie alle wieder zurück, um ihr Land zu verteidigen. An den ersten Kriegstagen des Yom-Kippur-Krieges waren die großen Flughäfen Europas und Amerikas mit Israelis überfüllt, die nach Israel gelangen wollten. Doch die meisten hatten schon längst keine militärischen Einheiten mehr, denen sie angeschlossen gewesen wären und gaben es nach einigen Tagen vergeblichen Wartens auf. Oft ebbte auch die Begeisterung der ersten Tage wieder ab und der Alltag, irgendwo in der Diaspora, ließ sie wieder ihrem gewohnten Leben nachgehen.

Doch völlig können sich diese Israelis — auch wenn sie nur 5 oder 6 Jahre im Land ihrer Väter gelebt haben — nirgendwo mehr integrieren. Sie tragen für immer, trotz Karriere oder Geld, ein Schuldgefühl mit sich herum, weil sie eines Tages ihrem Land den Rücken gekehrt haben. Im Herzen sind sie Israelis, trotz der „Fleischtöpfe Ägyptens“.

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