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Kartei der Sorgenkinder

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lung in Zwischenfächer vorhanden, klebt man mindestens drei Karton-Trennwände ein, sodaß zumindest vier getrennte Abteilungen zur Verfügimg stehen. Mit diesem bescheidenen Inventar sind wir hinreichend ausgerüstet - der Rest ist planvoller Einsatz, den wir am Beispiel des Lernens von englischen Vokabeln erläutern wollen!

Die Kartei bleibt von Anfang an „Problemkindern” vorbehalten. Es wird also in diese keineswegs jedes Vokabel aufgenommen. Denn viele Inhalte bleiben, wie der Lernende selbst deutlich merkt, ohne große Anstrengung im Gedächtnis. Auch Vokabel, die sich zunächst ein wenig sträuben, lassen sich meist auf „normale” Weise einprägen. Erst wenn wir auf ein eindeutig widerspenstiges Wort stoßen, gehen wir in die nächsthöhere Instanz und schreiben es auf eine Karte unserer Kartei - auf der einen Seite das deutsche Wort, auf der anderen die englische Übersetzung. Diese Karte wird in das vorderste Fach der Lernkartei gelegt.

Allmählich wird sich die erste Abteilung füllen und nach Bearbeitung rufen: Wir nehmen uns

Gruppe ruhte nach dem Lernprozeß und eine zweite hat ein anderes Material weitergelernt. Es zeigte sich, daß die Gruppe, die weiterlernte, eine wesentlich schlechtere Behaltensleistung hatte. Lang nach dem Ende eines bewußten Lernprozesses laufen Vorgänge in unserem Gehirn ab, die für die Konsolidierung des Gelernten entscheidend sind. Je ähnlicher die weitere Tätigkeit dem eben abgeschlossenen Lernprozeß ist, um so stärker hemmt sie die Konsolidierung. Aber jede Tätigkeit beeinträchtigt die Konsolidierung, am besten wäre es, sofort nach dem Lernen in Tiefschlaf zu sinken.

FURCHE: Ohne typologische Unterschiede?

GUTTMANN: Es ist offensichtlich eine Gesetzlichkeit unserer Hirnmechanik. Auch sie haben wir in unserem Modell umgesetzt, indem wir im Gegensatz zum konventionellen Unterricht nicht die ganze Stunde bei einem Inhalt bleiben und den von allen Seiten beleuchten, sondern bewußt herumhüpfen und in den Intervallen zwieinen bestimmten Zeitplan für die Wiederholung des ersten Faches vor (der von den Inhalten, aber auch der Dringlichkeit ihrer Beherrschung abhängt); beispielsweise zweimal pro Tag. Diese intensive Bearbeitung wird zur Folge haben, daß einige Vokabel immer besser im Gedächtnis bleiben und schließlich als „gelernt” eingestuft werden können. Es zeigte sich, daß man ein klares Gefühl dafür entwickelt, welche Inhalte „reif” geworden sind. Reif für eine Verlagerung ist das angrenzende Nachbarabteil!

Auch diese Inhalte werden laufend wiederholt - allerdings in größeren Abständen als die des ersten Abteils: beispielsweise jeden zweiten Tag. Wir müssen dabei auf mögliche Rückfälle achten und Kärtchen notfalls ins Abteil Nr. 1 zurückreihen. Dafür werden sich aber bei längerem Gebrauch immer mehr Inhalte des 2. Abteils als so sicher eingeprägt erweisen, daß wir sie in das nächstfolgende Fach reihen. Für dieses legen wir ein noch größeres Wiederholungsintervall - etwa einen Durchgang pro Woche -fest.

GISELHER GUTTMANN

Gekürzt aus: „Lernen - Die wunderbare Fähigkeit, geistige und körperliche Funktionen verändern zu können” von Giselher Guttmann. Reihe „kurz & bündig”, hpt-Verlagsgesell-schaft, Wien 1990.126 Seiten, Kt., öS 98,-. sehen den Wiederholungen zum Teil ein betontes Kontrastprogramm einsetzen. Jenes Ergebnis hat gezeigt, daß physiologische Vorgänge im Gehirn die Grundlage der Engrammbildung, also der Ausbildung einer Gedächtnisspur sind.

FURCHE: Kennt man sie?

GUTTMANN: 1900 sprach man von einem Konsolidierungsprozeß, in jüngster Zeit sind unsere Kenntnisse schon erheblich angewachsen. Sicher ist, daß Gedächtnisleistung kein homogener Prozeß ist, sondern es unterschiedliche Phasen gibt, denen unterschiedliche physiologische Mechanismen zugrunde liegen. Es ist zumindest eine Trennung in Kurz- und Langzeitgedächtnis notwendig, es gibt aber noch feinere Unterschiede, etwa ein Ultrakurzzeitgedächtnis.

FURCHE: Was heißt ultrakurz?

GUTTMANN: Ein fast wahrneh-mungshaftes Nachbild im Sekundenbereich, das ohne jeden Reproduktionsaufwand unmittelbar präsent ist. Schon im Bereich der Sekunden, acht, neun, zehn, bis höchstens einer halben Minute, sprechen wir vom Kurzzeitgedächtnis, weil es subjektiv noch gegenwärtig ist, aber doch schon etwas abgerückt ist. Der Anfang eines längeren Satzes ist noch präsent, wenn ich zum Ende komme, dann kommt bereits der Transfer ins Langzeitgedächtnis. In zehn Sekunden wäre im allgemeinen dieser Speicher voll. Wir glauben nach wie vor, daß es elektrochemische dynamische Erregungsprozesse sind, in denen diese Information codiert ist. Um aber in den langfristig speicherbereiten Zustand zu schalten, muß einiges passieren (siehe Kasten Seite 9). Wird dieses Etwas in Gang gesetzt, laufen Reaktionen ab, die tief in die genetische Steuerung unserer Hirnmechanik eingreifen. Es werden Substanzen freigesetzt, mit deren Hilfe Eiweißkörper gebildet und Wachstumsprozesse eingeleitet werden. Auch hier unterscheidet man heute Subsysteme, etwa ein kurzes und ein langes Langzeitgedächtnis.

Schon vor über 20 Jahren konnte gezeigt werden, daß sich im Anschluß an einen Lernprozeß spezifische Veränderungen im Bereich bestimmter Makromoleküle der Ribonukleinsäure des Gehirns nachweisen lassen. Sie nimmt zu, was sie bei jeder Aktivität tut, scheint aber auch qualitativ spezifische Einheiten auszubilden, die nur auftreten, wenn ein aktiver Lernprozeß abgelaufen ist. Lernen setzt also genetische Information frei, es wird ein Enzym produziert, ein Steuerstoff, der im Lernprozeß den Aufbau bestimmter Substanzen zu bewirken scheint. Während des Lernprozesses und unmittelbar danach bilden sich dann im Gehirn spezifische kleinere Eiweißkörper, lösliche Proteine mit niedrigem Molekulargewicht. Innerhalb einiger Stunden, maximal fünf bis sieben, nach dem Lernprozeß werden sie durch wesentlich größere, unlösliche Eiweißkörper, also längere Moleküle ersetzt.

FURCHE: Und die lagern sich dann irgendwo in der Gehirnrinde ein?

GUTTMANN: Es fehlen uns noch wesentliche Zwischenschritte vom aktuellen Erregungsgeschehen und den paar Etappen, in die man halb zufällig hineingeblickt hat, zum Endergebnis, aber dieses ist wieder recht präzise. Lebewesen, die etwas intensiv trainiert und gelernt haben, entwickeln in den Regionen, die offensichtlich dafür verantwortlich sind, eine viel dickere Gehirnrinde. Das Hirn wächst vergleichbar einem Muskel.

Univ.-Prof. GiselherGuttmann istOrdinarius für Psychologie in Wien. Mit ihm sprach Hellmut Butterweck.

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