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Kaum einer kannte ihn

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Reinhardt, Reinhardt und kein Ende! Nun kommt, nach dem Buch von Reinhardts Sohn Gottfried, nach seinem hundertsten Geburtstag, eine Gelegenheit, bei welcher sich plötzlich viele an ihn erinnerten, die ihn schon vergessen hatten, spgar — o Sünde! — nach der Frankfurter Buchmesse ein weiteres Buch über den großen, den größten aller Regisseure, man darf wohl sagen, d a s Buch. Ich weiß nicht, wie viele es lesen werden, jetzt, morgen, in den nächsten Monaten. Aber ich weiß, daß es in fünfzig Jahren noch gelesen werden wird und gelesen werden muß: von allen, denen Theater am Herzen liegt.

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Reinhardt, Reinhardt und kein Ende! Nun kommt, nach dem Buch von Reinhardts Sohn Gottfried, nach seinem hundertsten Geburtstag, eine Gelegenheit, bei welcher sich plötzlich viele an ihn erinnerten, die ihn schon vergessen hatten, spgar — o Sünde! — nach der Frankfurter Buchmesse ein weiteres Buch über den großen, den größten aller Regisseure, man darf wohl sagen, d a s Buch. Ich weiß nicht, wie viele es lesen werden, jetzt, morgen, in den nächsten Monaten. Aber ich weiß, daß es in fünfzig Jahren noch gelesen werden wird und gelesen werden muß: von allen, denen Theater am Herzen liegt.

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Dabei ist es nicht einmal besonders gut geschrieben, eigentlich überhaupt nur erzählt; die Autorin ist ja auch keine Schriftstellerin und sie will es nicht sein. Aber man spürt auf jeder Seite den Atem der Erzählerin. Gottfried Reinhardt, der Sohn, schrieb ein außerordentlich informatives Buch. Aber es war eigentlich nur interessant, weil es von Max Reinhardt handelt. Dieses Buch hingegen ...

Es handelt natürlich auch von Max Reinhardt und von der einzigen Frau, die er wirklich bis zuletzt geliebt hat, eben der Erzählerin. Es ist ein sehr aufrichtiges und innerlich wahres Buch. Helene Thimig geniert sich nicht. Sie erzählt dies und das von sich selbst, sie erzählt, wie Reinhardt und sie langsam zusammenfanden. Kein Wort von einer großen Leidenschaft, geschweige denn von dem, was sich heute „Sex“ nennt — und nicht einmal das. Aber wie zärtlich ist diese aufkeimende und dann alles überwuchernde Liebe. Wie behutsam kommen die beiden einander Schritt für Schritt näher. Etwa: Sie sitzen nächtelang in seinem Büro einander gegenüber, das Theater ist schon leer und dunkel, nur der Nachtportier wartet noch auf sie. Sie zieht nicht einmal die Handschuhe aus, obwohl Reinhardt sie darum bittet.

Das alles wäre schon deswegen interessant, weil die Thimig sicher eine der bedeutendsten Schauspielerinnen unserer Zeit war und ist. Aber sie war und ist eben mehr — und das macht das Buch weit über das Biographische hinaus so fesselnd, so traurig, so erschütternd.

Wir lernen Reinhardt kennen, so wie ihn bisher niemand kannte, auch sein Sohn nicht, einen zärtlichen Reinhardt, einen menschenscheuen Reinhardt, einen Reinhardt, der zwar immer mitten im Betrieb steckte, aber den Betrieb haßte. Wir erfahren, wie manche seiner großen Inszenierungen zustande kamen, wir erfahren — wer hat das wirklich gewußt? — daß .Jedermann“ gar nicht allein von Hofmannsthal stammt, sondern, daß Reinhardt kräftig an dem Text mitgearbeitet hat. Reinhardt muß feststellen, daß seine Leistungen — im Gegensatz zu denen der Schriftsteller oder Musiker — ungeschützt sind und bleiben und daß sie ständig nachgeahmt werden können. Und, weiß Gott, er ist auch genug bestohlen worden.

Reinhardts Leben. Eine groteske Mischung von Erfolgen, von begeistertem Jubel seines Publikums, wozu auch seine Schauspieler gehörten, dann wieder sinnlose Anfeindungen. Immer wieder stößt er auf Feindschaft, den Juden Max Reinhardt betreffend. Nun, er wollte sich nicht taufen lassen, und das hat ihn wohl die Direktion des Burgtheaters gekostet, das, als er im Zenit seines Ruhmes stand, eine Reihe von minderwertigen Direktoren engagierte, weil sie eben keine Juden waren. — Andere Vorzüge hatten sie kaum aufzuweisen. Als er Anfang der zwanziger Jahre das Theater in der Josefstadt übernehmen wollte, mußte er, der berühmteste Regisseur der Welt, den Wiener Behörden seinen Lebenslauf einreichen und Referenzen beibringen. Eine Geschichte am Rande: Die besten Freunde der Thi-migs waren die Lauckners, er, Rolf Lauckner, hielt sich für einen Dramatiker. Und schimpfte weidlich auf den Juden Reinhardt, der ihm, gemeinsam mit anderen Juden, den Weg zur Bühne versperrte. Später spielte Reinhardt ihn — natürlich der Thimig zuliebe, aber die Stücke waren keine Erfolge. Nicht einmal der jüdische Reinhardt konnte den unbegabten Lauckner durchsetzen.

Aber das belehrte Lauckner nicht. Als die Thimig mit Reinhardt aus Protest aus dem Dritten Reich auswanderte, waren Lauckner und seine Frau ganz entsetzt. Wie konnte sie jetzt, da in Deutschland alles so wundervoll werden würde, das Land verlassen! Sie bekam es auch noch zu spüren, als sie ein oder zwei Jahre nach dem Krieg wieder in das heimatliche Österreich zurückkehrte. In Salzburg arbeitend, erhielt sie anonyme Briefe, die sie als „Judenhure“ brandmarkten. Dies noch 1947 und 1948!

Reinhardt störte sich an dem Antisemitismus nicht im geringsten. Er hatte gar keine Zeit, sich damit zu befassen. Er hatte viel zuviel zu arbeiten. Er arbeitete ja fast jede Nacht durch und schlief viel zuwenig, denn um elf oder zwölf Uhr mußte er ja stets auf Proben. Er war ein Fanatiker der Arbeit. Das hatte mit seiner Liebe für Schauspieler zu tun. Andere Regisseure lieben oder liebten ihre Inszenierungen, oder die Gescheitheit, die sie dazu bringt, alles ganz anders zu machen, als der Autor oder der Dichter es gedacht haben. Reinhardt sah seine Leistung darin, aus seinen Schauspielern herauszuholen, was in ihnen steckte. Er war — die Thimig beschreibt das immer wieder — nie heftig oder gar böse mit ihnen. Mitspracherecht? Das, was sie heute alle fordern, war für Reinhardt eine Selbstverständlichkeit. Natürlich durften Schauspieler mitsprechen. Darüber war gar kein Wort zu verlieren. Schlimmer schon die Mittagspausen, die eingelegt werden mußten, oder die Proben, die beendet werden mußten, weil die Vorstellung beginnen sollte.

Alles das erzählt seine Frau. Aber auch im Buch aufgenommene zahlreiche Briefe Reinhardts und seine Reden beweisen es. Was eigentlich forderte er am dringlichsten von seinen Schauspielern? Daß sie denken! Sie mußten denken, was die Figur dachte, die sie spielten. Sie mußten denken, um zu begreifen, was der Partner oder die Partner sagten. Das war entscheidend. Das war das wirklich Entscheidende für ihn. Er lebte ganz in seiner Welt. Was außerhalb seiner Welt des Theaters vor sich ging, sah er kaum, es interessierte ihn auch nicht.

Nur so konnte es geschehen, daß ein so kluger Mensch wie er — und mit ihm die Thimig — überhaupt nicht begriff, welche Bedrohung die Nazis darstellten; bis es zu spät war. Als er wußte, daß er Deutschland würde verlassen müssen, schenkte er das Deutsche Theater dem deutschen Volk. Der Brief, den er an die Regierung richtete und in dem er diesen seinen Entschluß bekanntgab, ein Theater zu verschenken, in dem immerhin fast vierzig Jahre seiner Lebensarbeit stecken, wurde von der Regierung nie beantwortet. Nur ein gewisser Hermann Göring bemerkte hämisch, das Theater sei ja über und über mit Hypotheken belastet und verschuldet. Das war derselbe Göring der links und rechts deutsche, französische, belgische, russische Museen plünderte, Häuser, Güter, Schlösser annektierte.

Das Ende Reinhardts war tragisch — das wissen wir. Aber erst durch dieses Buch erfahren wir, wie lange sich eigentlich dieses Ende hinzog. Der Sohn beschrieb nur, was sich nach dem ersten Schlaganfall tat, wie Reinhardt viele Wochen hinsiechte und schließlich verlöschte. Die Thimig beschreibt, wie er unter dem Nichtstun litt, er, der in so vielen Jahren ununterbrochen probte und arbeitete, der entwarf und verwarf — und nun plötzlich gar nichts mehr au tun hatte. Denn Amerika wollte ihn nicht. Er war zu teuer. Nicht er selbst, sondern seine Inszenierungen. Er war zu europäisch. Darunter, daß er zum Nichtstun verdammt war, litt er furchtbar. Und da konnten ihn auch die wenigen

Freunde, die er hatte, nicht trösten. Zu ihnen gehörte Eleonora von Mendelssohn, die schöne, immens reiche junge Frau, die zeit ihres Lebens versucht hatte, sich an Reinhardt heranzumachen, und die von der Thimig einmal als „ungeheuer lästig“ charakterisiert wird. Typisch: Als Reinhardt bereits nach seinem Schlaganfall hilflos im Hotelbett lag, sorgte die Mendelssohn dafür, daß die Thimig überhaupt nicht informiert und später falsch informiert wurde, so daß sie eigentlich erst im letzten Augenblick kam. Sie fand ihr Bild nicht mehr auf seinem Nachttsch, sondern unter ihm! Aber von der Mendelssohn war nichts mehr zu sehen. Sie hatte das Weite gesucht.

Immerhin, die letzten Tage verbrachte Helene Thimig am Sterbebett Max Reinhardts. Und er schien glücklich darüber zu sein, obwohl er nicht mehr sprechen und kaum noch eine Bewegung machen konnte.

Nach seinem Tode war sie, begreiflich, allzu begreiflich, einsamer denn je. Sogenannte gute Freunde, darunter die Frau Alfred Polgars, rieten ihr, sich das Leben zu nehmen. Sie erwarteten es geradezu von der Thimig. Das wäre aber kaum im Sinne von Max Reinhardt gewesen.

Das Buch, das sie nun vorlegt, ist in seinem Sinn. Und man muß es noch einmal sagen: Wer etwas über das Theater lernen will, wird es lesen. Wenn nicht jetzt, dann in fünfzig Jahren.

„Wie Max Reinhardt lebte. . . eine Handbreit über dem Boden.“ Von Helene Thimig-Reinhardt. Verlag R. S. Schulz, Percher 1973. 372 Seiten, 36 Photos, Preis DM 26.—.

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