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Kaum jemand will alleine sterben

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Heute stirbt man im Krankenhaus, im Alters- oder Pflegeheim, auf der Straße, jedoch selten zuhause, oft allein und im Dämmerschlaf. Ein Arzt will sich nicht damit abfinden.

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Heute stirbt man im Krankenhaus, im Alters- oder Pflegeheim, auf der Straße, jedoch selten zuhause, oft allein und im Dämmerschlaf. Ein Arzt will sich nicht damit abfinden.

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FURCHE: Ist das Sterben im Krankenhaus negativ zu sehen und muß man sich nicht damit abfinden?

PAUL BECKER: Man könnte sagen: Gut, das ist nun einmal eine Zeiterscheinung, an der nichts zu ändern ist. Das wäre aber zu einfach. Deshalb habe ich seit einigen Jahren die Sterbenden, die ich kannte, immer wieder gefragt, wo sie denn sterben wollten. Die Antwort von über 90 Prozent war: Zuhause! Und auf meine Rückfrage: „Warum denn unbedingt zuhause?“ , bekam ich die Antwort: „Herr Doktor, ich möchte dort sterben, wo ich zu leben gewohnt war.“

Welch ein Widerspruch zu den 90 Prozent, die in Anstalten sterben! Wir haben, wie gesagt, das Sterben delegiert. Und zwar an Institutionen, die für den Umgang mit Sterbenden nicht eingerichtet sind, deren Mitarbeiter auf diese Aufgabe nicht vorbereitet sind.

FURCHE: Ist nicht sogar für die Spitäler und Pflegeheime jeder Sterbefall im Grunde genommen ein offenkundiger Fehlschlag?

BECKER: Ja, in gewissem Sinne eine Bankrotterklärung. Ins Krankenhaus geht man ja, um möglichst gesund wieder herauszukommen, nicht aber, um in einer Kiste herausgetragen zu werden.

Auch die dort tätigen Ärzte und Schwestern sind nicht auf die Aufgabe, Sterbende zu begleiten, vorbereitet. Im Studium werden weder den angehenden Ärzten, noch den angehenden Schwestern Lehrinhalte unter dem Titel „Wie gehe ich mit Sterbenden um?“ , geboten. Zwar geschieht heute mehr auf diesem Sektor - etwa die Werkwochen, die ich anbiete. Vor 15 Jahren wäre dies undenkbar gewesen.

FURCHE: Wer interessiert sich heute für solche Kurse?

BECKER: Eigentlich Leute aus allen Schichten: persönlich Betroffene, die einen Sterbefall in der Familie hinter sich haben oder mit einem rechnen, viele Ärzte, Krankenschwestern, Altenpflegerinnen oder -helferinnen, Seelsorger … Im Grunde genommen geht das Thema natürlich jeden an.

FURCHE: Was ist Ihr konkretes Anliegen in solchen Kursen?

BECKER: Meine Bemühungen sind gezielt darauf gerichtet, das Sterben wieder dort möglich zu machen, wo es eigentlich hingehört, also in der Familie. Meistens scheitert das an den Voraussetzungen:Kleinstwohnungen,

Kleinstfamilien, in denen ja oft nicht einmal ein Kind Platz hat…

FURCHE:Liegt es nicht am modernen Lebensstil der mangelnden Gastfreundschaft, des total verplanten Alltags, daß man sterbende Verwandte nicht zu sich nehmen mag?

BECKER: Das stimmt für viele Familien. Es sind ja wirklich nicht alle räumlich beengt. Viele könnten den sterbenden Vater heim-

nehmen. Aber sie wissen nicht recht, wie man das macht.

FURCHE: Und kann man da helfen? Versuchen Sie, die Leute dazu zu motivieren?

BECKER: Ich motiviere sie nicht nur, sondern helfe ihnen auch. Ich betreue aus meiner Praxis heraus etwa sechs bis acht Sterbende zu Hause. Einmal in der Woche besuche ich sie, obwohl ich sonst als Internist keine Hausbesuche mache. In diesen besonderen Fällen aber übernehme ich die Funktion des begleitenden Arztes.

FURCHE: Sie machen den Familien also Mut zu einem solchen Schritt?

BECKER: Ich ermuntere die Familien nicht nur dazu, ich begleite gerade auch die Angehörigen. Oft ist die Arbeit mit ihnen viel anstrengender und umfassender (sie geht oft über den Tod hinaus) als die Sorge um den Sterbenden selbst. Vielfach will ja der Sterbende gar nicht von mir, sondern von seiner Familie begleitet werden. Und dann bin ich eben der Begleiter der Begleiter.

FURCHE: Sind Sie da nicht eher als Seelsorger und nicht so sehr als Arzt gefordert?

BECKER: Mehr als Mensch. Als Seelsorger nicht in einem konfessionellen Sinn. Aber Seelsorge insofern, als für mich Leib- und Seelsorge überhaupt nicht zu trennen sind. Wo der Leib krank ist, ist auch die Seele gekränkt. Und wo eine Seele gekränkt ist, leidet auch der Leib.

FURCHE: Welche Erfahrungen machen Sie nun bei dieser Familienbegleitung?

BECKER: Vor allem die Erfahrung, daß diejenigen, die es durchhalten, stolz auf ihre Erfahrungen sind. Meine Beziehungen zu Familien von Verstorbenen gehen oft über Jahre weiter. Solange wie die Betroffenen es brauchen.

Und da merke ich, wieviel es ihnen bedeutet, den letzten Wunsch ihres Verwandten mit meiner Hilfe erfüllt zu haben. Für sie selbst ist es auch ein Stück Lebensbestätigung.

FURCHE: Haben Sie Hilfskräfte bei dieser Unterstützung?

BECKER: Bei uns in der Bundesrepublik gibt es Sozialstationen. Sie sichern eine ambulante Betreuung und sorgen dafür, daß Verrichtungen, die die Angehörigen selbst nicht allein schaffen, täglich erledigt werden.

Aber man darf die Angehörigen nicht unterschätzen. Ich habe einen 84jährigen Mann erlebt, der seine 74jährige Frau, die eine Stammhimblutung hatte, ein Jahr lang zuhause gepflegt hat. Die Frau konnte weder sprechen, noch sich bewegen. Er hat alles gemacht: abgesaugt, gebettet, das Wundgelegene durch Ver-* bände gepflegt, sie künstlich mit- emährt…

Für den Mann ist das heute, nach drei Jahren, eine ganz große Genugtuung, ihr diesen letzten Dienst getan zu haben, wo sie doch ihr ganzes Leben für ihn dagewesen war. Es geht also darum, weder das Sterben vom Leben, noch die Sterbenden von den Lebenden abzusondern.

FURCHE: Und was bedeutet das nun für die Institutionen?

BECKER: Mein Anliegen: Die im Krankenhaus Tätigen zu befähigen, mit Sterbenden anders umzugehen, als dies heute meistens geschieht. Da biete ich Seminare und Aufbaukurse an, die auch schon seit zehn Jahren hier in Österreich großen Anklang finden.

FURCHE: Haben Ihre und ähnliche Bemühungen schon Änderungen im Spitalssektor bewirkt?

BECKER: Im Augenblick tut sich einiges. In Deutschland trägt man sich etwa mit dem Gedanken, sogenannte Palliativ-Stationen (lindernde Stationen) einzurichten. Ihr Hauptanliegen soll das Erleichtern der letzten Lebensphase sein: schmerzfrei halten, Infusionen gegen den Durst, Sicherung der Nachtruhe, exzellente Hygiene und vor allem persönliche Zuwendung. Dort soll vor allem auch die Möglichkeit geboten werden, die Angehörigen miteinzubezie- hen: Besuche, Mitpflege… Eine Art „Rooming-in“ für Sterbende.

FURCHE: Also bleibt doch das Spital zuständig?

BECKER: Darüber hinaus sollte an neue Institutionen gedacht werden, etwa an Hospize. Wenn man das Wort Hospiz hört, denkt man schnell an Sterbekliniken. Zu Sterbekliniken würde ich sagen: „Nein!“ zu Hospizen „Ja!“ Hospiz heißt Raststätte — und nicht Endstation. Das Hospiz sollte eine Zwischenstation sein, ein vorübergehender Aufenthalt zwischen Spital und dem eigenen Heim.

Patienten sollten im Hospiz so behandelt werden, daß ihr Zustand ausreichend stabil erscheint, damit sie zuhause vom Hausarzt und von der Familie weiterbetreut werden können. Im Hospiz könnte vor allem die Fami-

lie auf die neue Situation eingestellt werden, könnte das Nötige einüben, um sich die Heimpflege des Patienten überhaupt zuzutrauen. Interessant ist ja, daß die Einrichtung solcher Hospize in England durchaus nicht das Zuhausesterben verhindert hat. Im Gegenteil: 1967 starben in London zwei Prozent der Menschen zuhause und heute sind es — durch die Vermittlung der Hospize—immerhin 33 Prozent!

FURCHE: Was ist nun im Umgang mit Sterbenden besonders zu beachten?

‘BECKER: Da muß man zuerst klarstellen, daß das Sterben vom Leben gar nicht abgesondert werden kann und darf. Beides geschieht gleichzeitig: Ein Lebender stirbt immer schon ein wenig und ein Sterbender lebt immer noch — manchmals sogar sehr intensiv. Durch die Arbeit mit Sterbenden habe ich enorm viel gelernt und begriffen, wie wichtig das Leben ist, um auch das Sterben auf sich nehmen zu können.

FURCHE: Kommt man bei der Sterbebeleitung nicht zwangsläufig in die religiöse Dimension?

BECKER: Das erscheint zumindest fast unvermeidlich. Ich bin aber sehr zurückhaltend geworden mit religiösen Angeboten, nach denen nicht gefragt wird. Wo religiöse Begleitung gewünscht wird: selbstverständlich — und zwar so gut und intensiv wie möglich. Aber keinesfalls darf man das jemandem aufzwingen. Das ist nichts Liberales, was ich da sage. Glauben Sie mir, ich bin ein sehr gläubiger Christ.

FURCHE: Aber tauchen bei Sterbenden nicht ohnedies stets Sinnfragen auf?

BECKER: Das geschieht sehr häufig. Aber einer der ersten Sterbenden, den ich betreut habe, war ein ausgesprochener Atheist. Er hat bis kurz vor dem Tod religiöse Dinge nicht angesprochen. Einmal aber hat er mich gefragt: „Herr Doktor, wie halten Sie das nur bei mir aus?“ Und da gab ich ihm zur Antwort: „Ohne meinen Glauben ginge es vielleicht nicht.“ Und seine Antwort darauf war: „Wenn ich doch nur so glauben könnte!“ Und da klang für mich eine Glaubenssehnsucht heraus, die man manchmal bei Gewohnheitschristen vermißt.

FURCHE: Und bekehren sich nicht auch viele Gewohnheitschristen im Sterben?

BECKER: Es kehren viele von diesen Menschen in ihren letzten Tagen und Wochen zu einer überzeugenden Haltung zurück. Damit aber geben sie ein Beispiel für die anderen und damit letzten Endes ein Stück Heil für die Hinterbliebenen.

Das Gespräch mit dem Limburger Facharzt für Interne Medizin führte Christof Gaspari.

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