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Kehrtwendung um 180 Grad

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Das Jahr 1974 wird als Beginn einer tiefgreifenden geistigen Wandlung in Erinnerung bleiben, die viele Werte, die man bis dahin für unverrückbar angesehen ‘hatte, in Frage stellt. Ohne in den Verdacht zu kommen, die marxistische Theorie vom „geistigen Überbau“ zu akzeptieren, läßt sich unschwer feststellen, daß diesem Ereignis wesentliche Veränderungen der Rahmenbedingungen des internationalen und nationalen Wirtschaftslebens vorausgingen. So haben das weltweite Inflationsproblem, die Liquidierung des Währungsabkommens von Bretton- Woods, die internationale Energie- und Rohstoffkrise und die sich in einigen Staaten katastrophal auswirkenden Liquiditätsprobleme ihre notwendigen Rückwirkungen auf die Wirbschaftsmentalibät und damit auf weite Bereiche in Staat, Gesellschaft und Politik ausgelöst. Neben die latente und daher schon abgestumpfte Furcht vor der Bedrohung des Weltfriedens tritt nun auch für viele die Angst vor der Beeinträchtigung des erreichten Wohlstandes. Wenig Platz also für jenen unkontrollierten Fortschrittsglauben der noch vor wenigen Jahren die Gesellschaft zu beherrschen glaubte. Zunehmende Skepsis vor der Zukunft und die vage Hoffnung jedes einzelnen, letztlich doch noch unbeteiligter Zuschauer bleiben zu können, charakterisieren die Szene zu Beginn des Jahres 1975.

Vorhersagen sind an sich problematisch, umsomehr in einem Stadium, in dem allerorts von notwen diger , .Kurskorrektur’ ‘ bis „Tendenzwende“ gesprochen wird. Wehmütig blickt dieser Tage so mancher Prophet in die Vergangenheit, in der es galt, den vorn Gesetz des immerwährenden Fortschritts überzeugten Menschen neue Wachstumsrekorde ohne allzu großes Risiko vorherzusagen. Was aber sagt man jemandem, der um die Früchte seiner Arbeit bangt und der ‘heimlich hofft, daß es den Nachbarn und nicht das eigene Haus treffen möge?

Diese für die Politik der nächsten Zeit entscheidende Frage sollte im Mittelpunkt unseres Interesses stehen. Es geht schlicht und einfach darum, der Bevölkerung ohne Schönfärberei den Emst der Lage klar zu machen, ohne dabei Resignation zu erzeugen. So müßte es möglich sein, dem mündigen Bürger jene auf uns zukommenden Veränderungen und Schwierigkeiten als Herausforderung an seine persönliche Initiative klar zu machen und in ihm den Will«! zu entfachen, herauszufordem und Herausforderungen anzunehmen. In diesem Kampf um das bisher Erreichte sollten aber bei aller Härte und allem Einsatz jene Eigenschaften zum Tragen kämmen, die wir uns während der langen Periode der Prosperität unserer Wirtschaft und unserer Kultur erworben haben. Gemeint ist damit unser Sinn für soziale Verantwortung und Gerechtigkeit, das Festhalten an demokratischen Grundsätzen und humaner Gesinnung. Das sich im Jahr 1975 weltweit unweigerlich abschwächende Wirtschaftswachstum, die anhaltende

Inflation und die im Gefolge zunehmende Gefährdung der Arbeitsplätze werden uns die Einhaltung dieser Ideale nicht lacht machen.

Daß die Moral allemal erst nach dem Fressen komme, besitzt nicht nicht nur für Bert Brecht sondern auch für jene 2 Milliarden Menschen volle Gültigkeit, die heute all dessen ermangeln, was wir noch im Überfluß besitzen. Trotz aller auf uns zukommenden internen Schwierigkeiten sollten wir daher den Blick aus dem Fenster unserer immerwährenden Neutralität vor allem auf jene

Völker der vierten Welt lichten, die gerade auf dem besten Wege dazu sind, im gegenwärtigen Machtkampf zwischen dem Kartell der Erdölpro- duzenten und den Industrienationen, als erste auf der Strecke zu bleiben. Es kann uns nur ein geringer Trost sein, wenn uns internationale Prognosen für das Jahr 1975 ein relativ günstigeres Abschneiden bescheinigen. Es mag zutreffen, daß wir auf der „Insel der Glückseligen“ bisher vor ähnlichen Entwicklungen wie im benachbarten Italien oder Großbritannien bewahrt wurden. Es wäre aber vermessen, anzunehmen, daß jene — eher zufälligen — Faktoren wie das Fehlen einer bedeutenden Automobilindustrie, die geringe Bevölkerungsdichte, oder das Vorhandensein eigener Energieträger auf die Dauer imstande sein werden, die Krise aus unseren Grenzen zu verbannen.

Die österreichische Bundesregierung, nach ihrer spektakulären Aus- gatoenpolitik in den Jahren der Hochkonjunktur nunmehr Gefangene eben dieser Politik, steht den kommenden Veränderungen tatenlos gegenüber. Sie entwickelt derzeit ein System strategischer Aushilfen, deren Kurzfristigkeit und Kurzsichtigkeit durch den Wahltermin im Jahr 1975 bestimmt ist. Die Sozialistische Partei, die ihre Wahlerfolge in der Vergangenheit nacht zuletzt dadurch erringen konnte, daß sie es verstanden hat, für einzelne Gruppen der Bevölkerung das Anspruchs- niveau permanent in die Höhe zu schrauben, sieht sich, nicht nur in Österreich, vor allem durch die in der Gesellschaft erfolgte Tendenzwende größten Schwierigkeiten ausgesetzt. Der Versuch, in letzter Minute die gigantische Kehrtwendung um 180 Grad in ihrer Politik zu vollziehen, um in den Augen der Bevölkerung die Positionen Sparsamkeit, Sicherheit und Stabilität zu besetzen, muß sowohl in der Bundesrepublik Deutschland, wo er mit aller Brutalität, als auch in Österreich, wo er in zaghaften Andeutungen geführt wurde, als gescheitert betrachtet werden. So verlangt die bereits mehrfach erwähnte Änderung im Bewußtsein der Bevölkerung nicht zuletzt nach klaren politischen Verhältnissen. Je früher dieselben erzielt werden können, umso mehr bietet sich in diesem Jahr die Gelegenheit, durch gemeinsame Anstrengung jene Startposition zu erreichen, die eine Chance für ein Meistern der zukünftigen Entwicklung bietet Noch erscheint es dazu nicht zu spät, denn „auch die Eule der Minerva beginnt erst in der Dämmerung ihren Flug“. Möge dieser Satz des Philosophen und Dialektikers Friedrich Hegel 1975 all jenen zu denken geben, die glaubten, als einzige im Besitz des Wissens um den Gang der Geschichte zu sein.

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