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Keim eines neuen Krieges

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Der große Krieg, der Europa am Beginn dieses Jahrhun- derts heimgesucht hatte, fand im Herbst 1918 sein Ende. Die Mittel- mächte gaben sich geschlagen. Nach vier schweren Jahren wirtschaftlich ausgepowert, von sozialen Unru- hen geschwächt, waren sie ans Ende ihrer Kraft angelangt. Militärre- volte drohten den Regierenden, die, um das Schlimmste, einen Bürger- krieg, zu vermeiden, den Weg zum Verhandlungstisch fanden.

Bulgarien schloß am 30. Sep- tember 1918 einen Waffenstillstand mit den Alliierten; die Türkei am 30. Oktober 1918 und Vertreter Österreich-Ungarns unterzeichne- ten den Waffenstillstand am 3. November in Tarvisio mit den Alli- ierten. Das Deutsche Reich kapitu- lierte zuletzt.

Eine Revolution in Berlin mußte kommen, um Kaiser Wilhelm II. aus seinem Palast zu verjagen und ei- nen Machtwechsel in Deutschland herbeizuführen, deren Repräsen- tanten dann am 11. November 1918 im französischen Compiegne, einer Stadt an der Mündung der Aisne in die Oise, die harten Bedingungen des Waffenstillstandes ent- gegennahmen und unterzeichneten.

Den Waffenstillständen folgten die Friedensverträge, die von den alliierten Mächten - vor allem von Frankreich, dann von England und Italien, weniger von den USA, de- ren Präsident Woodrow Wilson sich enttäuscht von der Machtgier der Franzosen rechtzeitig von den Frie- densverhandlungen zurückgezogen hatte - 1919 und 1920 zum Ab- schluß gebracht wurden. Diese Ver- träge, die die Nachkriegsordnung Europas bestimmten und voll von Widersprüchen waren, trafen die besiegten Völker der ehemaligen Mittelmächte hart. Nicht nur Kon- tributionen wurden gefordert, Wiedergutmachungen aller Art geltend gemacht, sondern auch Maßnahmen getroffen, die die Sub- stanz dieser Nationen - insbeson- dere Deutschland und Ungarn - trafen und eigentlich den Keim zum kommenden Zweiten Welt- krieg legten.

Die ungarische Friedensdelega- tion, angeführt von einem ungari- schen Magnaten, Graf Albert Ap- ponyi, der diese Aufgabe als die schwerste seines Lebens empfun- den hatte, traf bereits im Mai 1920 in Paris ein. Sie vertrat ein Land, das nicht nur vom Krieg gezeich- net, sondern in den vergangenen 18 Monaten 1918/19 von zwei Revolu- tionen und einer Gegenrevolution heimgesucht worden war. Das Phänomen „Österreich-Ungarn" - als Staat - existierte zu diesem Zeit- punkt auch juristisch nicht mehr. Die Trennung „Deutsch-Öster- reichs" von Ungarn wurde bei der Unterzeichnung des Friedensver- trages mit der Wiener Regierung von Saint-Germain-en-Laye be- reits am 10. September 1919 vollzo- gen und zementiert. Danach sollte Ungarn als selbständiger Staat existieren, das heißt, seine staatli- che Souveränität, die seit 1526 nicht mehr existierte, wiedererlangen.

Aber um welchen Preis?

Österreich und Ungarn wurden von den Siegermächten als Rechts- nachfolger der k.u.k. Donaumo- narchie und damit als Anstifter des Kriegs 1914 angesehen und beur- teilt. Dagegen zählte man die Tsche- chen, die Südslawen (das heißt Jugoslawien) und die siebenbürgi- schen Rumänen zu den Siegern. Nicht Gerechtigkeit, sondern Ra- chegefühle und Unwissenheit über die wahre Lage der einstigen Do- naumonarchie beherrschte die Pari- ser Szenerie. Besser gesagt die Ver- treter der Siegermächte, die in Ver- sailles, im einstigen Schloß der Bourbonen-Könige ihr Hauptquar- tier aufgeschlagen hatten.

Die Friedensverhandlungen - eigentlich Diktate der Sieger - standen unter dem Stern des fran- zösischen Ministerpräsidenten George Clemenceau, der einen bis heute nicht geklärten Haß gegen die „Hunnen" (Deutsche und Kon- sorten) hegte. Dementsprechend fie- len auch die Friedensverhandlun- gen für Deutschland und Öster- reich-Ungarn aus.

„Eine ungarische Nation? So etwas existiert überhaupt nicht! Eine Krone ist vorhanden und etwa 15.000 von Österreich kreierte ungarische Adelige. Eine .ungari- sche Nation' ist eine Legende." Diese Sätze stammen aus dem Mund des französischen Generalsekretärs der Friedenskonferenz. Und da die Tschechen mit gefälschten Angaben und Landkarten operierten, wurde ihnen - die selbst mit ihren slowa- kischen Nationalitäten nicht zu- recht gekommen sind - aus Ober- Ungarn ein großes Gebiet zugespro- chen (siehe Graphik Seite 11).

Mit den Rumänen hatten die Franzosen auch Schwierigkeiten. Die rumänische Regierung forderte nicht nur ganz Siebenbürgen und das Banat von Ungarn. Sie wollte ihre Westgrenze an der Theiss se- hen. Siebenbürgen und das Par- tium wurde den Rumänen bereits 1916 in einem Geheimvertrag von Paris aus „geschenkt": das sollte der Preis dafür sein, daß Rumänien (das bisher im Krieg seine Neutra- lität wahrte) Österreich-Ungarn an- greifen würde, was es dann auch getan hatte. Da aber der Landesteil Banat auch von den Südslawen beansprucht wurde, hatten die Sie- germächte in Versailles das Banat zwischen Rumänien und Jugosla- wien aufgeteilt, eine Lösung, die keinen der Besitzer zufrieden ge- stellt hat. Kroatien, das seit dem elften Jahrhundert mit Ungarn in einer Personalunion lebte, wurde dem von den Serben beherrschten südslawischen Königreich (später „Jugoslawien") einverleibt. Schließlich kam auch ein Teil von West-Ungarn (Burgenland) zu Österreich.

Grob gerechnet mußte Ungarn zwei Drittel seines ursprünglichen Gebietes an die sogenannten Nach- folgestaaten beziehungsweise an die Republik Österreich abtreten. Gewiß lebten in den von Ungarn abgetrennten Gebieten mehrheit- lich „Nationalitäten": Slowaken, Ruthenen, Rumänen, Serben, Kroa- ten und Deutsch-Österreicher. Gewiß, Ungarn hatte in den Jahren nach dem Ausgleich mit Wien (1867) für die Probleme dieser Nationali- täten wenig Interesse und Verständ- nis aufgebracht. Der zentral geführ- te und in vieler Hinsicht sture „Ma- gyarisierungs-Prozeß", der bei den Budapester Regierungen der Ära Franz-Joseph im Mittelpunkt der Nationalitätenpolitik stand und Ungarns „historische Hegemonie im Donauraum" für weitere Jahrhun- derte sichern sollte, hatte nun gera- de das Gegenteil bewirkt.

Die Nationalitäten des Heiligen Stephan-Reiches strebten eine Eini- gung mit ihrem Mutterland an oder wurden - wie im Falle der Tsche- choslowakei - selbst Bestandteil eines neuen Staates, dessen Beyöl- kerungsteile einander ethnisch näher standen als die Magyaren.

Aber die neuen Grenzen, die man • nun dem Königreich Ungarn ab- verlangte, trennten auch rein un- garisch bewohnte Gebiete vom Mutterland. Mehr als drei Millio- nen Ungarn kamen unter fremde Herrschaft. Alle Bemühungen der ungarischen Friedensdelegation, wenigstens in den Landstreifen mit ethnisch gemischter Bevölkerung am Rande der neugezogenen Gren- zen eine Volksabstimmung über ihre künftige Staatszugehörigkeit durchzuführen, stießen in Paris bei den Siegern auf Ablehnung.

Daß die ungarische Delegation am 4. Juni 1920 im ehemaligen Lustschloß im Park von Versailles, im Trianon, das Friedensdiktat der Siegermächte unterzeichnete, hat- te mehrere Gründe.

Einer der wesentlichen war eine offizielle Note, genannt Lettre d' envoi, des (neuen) französischen Ministerpräsidenten Millerand, der darin gewisse Ungerechtigkeiten des Trianon-Vertrages einräumte und eine legale Möglichkeit für eine spätere Rektifizierung zugunsten der Ungarn offenließ. Auch andere - inoffizielle - Versprechungen von seiten führender französischer Po- litiker über eine spätere Revision des Friedensvertrages ließen den Ungarn die Hoffnung, im Schloß Trianon sei doch nicht das letzte Wort gesprochen worden.

Die ungarischen Regierungen der Zwischenkriegszeit stellten die territoriale Revision in den Mittel- punkt ihrer Politik, die sie schließ- lich in die Arme Benito Mussolinis und Adolf Hitlers trieb. Wie wir schon am Anfang gesagt haben: Der Keim des Zweiten Weltkrieges wur- de in Paris anhand der Friedens- verträge der Sieger mit den Be- siegten des Ersten Weltkrieges ge- legt. Von Paris 1919/20 führte der Weg schnurgerade nach Danzig und Warschau 1939.

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