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Kein Asyl mehr im Elfenbeinernen Turm

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Die Wissenschaft darf sich nicht mehr auf die „Küchenmesser-Ethik“ berufen, die den Hersteller des Messers von der Verantwortung für den damit begangenen Mord entbindet, meinte Ernst Ulrich von Weizsäcker, Direktor des Instituts für europäische Umweltpolitik, kürzlich in Wien. Das Spannungsfeld von Freiheit und Verantwortung ist Thema dieses Dossiers.

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Die Wissenschaft darf sich nicht mehr auf die „Küchenmesser-Ethik“ berufen, die den Hersteller des Messers von der Verantwortung für den damit begangenen Mord entbindet, meinte Ernst Ulrich von Weizsäcker, Direktor des Instituts für europäische Umweltpolitik, kürzlich in Wien. Das Spannungsfeld von Freiheit und Verantwortung ist Thema dieses Dossiers.

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Naturwissenschaft und Technik scheinen die erfolgreichsten Unternehmungen zu sein, die von Menschengeist geplant und von Menschenhand durchgeführt worden sind. Das beweist die explosive Vermehrung der Bevölkerung, die Verlängerung der Lebenszeit und die Erhöhung des Lebensstandards in den meisten Industrieländern.

Selbst die Tatsache, daß die Menschheit aus zwei mörderischen Weltkriegen mit Dutzenden Millionen Toten ungebrochen hervorgegangen ist, während die großen Seuchenzüge früherer Zeiten einen deutlichen Knick in der Bevölke-

rungsstatistik hinterließen, ist Zeichen des wissenschaftlichen Fortschrittes. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist auch klar geworden, daß der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn Schattenseiten hat. Denn er dient auch der Vernichtung der Menschheit. Das gilt nicht nur für die Kriegs- und Rüstungstechnik, sondern auch für viele andere, alltägliche Gebiete menschlicher Betätigung.

In dieser Situation wird der Ruf nach der Verantwortung des Wissenschaftlers laut, der immer noch mit einem Vorwurf verknüpft ist, der unwiderruflich der Vergangenheit angehört. Es ist das geradezu klassisch gewordene Symbol des „elfenbeinernen Turmes“, das seit jeher das Bild des Wissenschaftlers als eines Menschen bestimmt hat, der in Einsamkeit und Freiheit sich ein eigenes, von äußeren Einflüssen ungestörtes Paradies der reinen Forschung aufbaut. Tatsächlich hat es auch in der Geschichte der Naturwissenschaft von der Antike bis in unser Jahrhundert genügend berühmte Beispiele gegeben, die dieses Bild des leidenschaftlichen, nur der Erforschung der Wahrheit hingegebenen Wissenschaftlers bestätigen.

In unserem Jahrhundert hat sich dies jedoch in einer einzigen Generation drastisch verändert. Das große Beispiel dafür ist Einstein. In seinen eigenen wissenschaftlichen Anfängen als Angestellter des Patentamtes in Bern konnte er tat-

sächlich noch an das von äußeren Einflüssen ungestörte Paradies der reinen Forschung glauben. Seinen Besuchern demonstrierte er sein „Institut für theoretische Physik“ damit, daß er einfach die Schublade seines Schreibtisches aufzog. Wissenschaftlern, die Ruhe für ihre Arbeit finden wollten, schlug er den Beruf eines Leuchtturmwärters vor. Aber gerade er selbst, der auf einem Gebiet extrem reiner Grundlagenforschung arbeitete, von dem man annahm, daß es bestenfalls philosophische Implikationen besäße, wurde bei der Planung der Atombombe konsultiert, deren militärischen Einsatz er später vergeblich zu verhindern versuchte.

Was ihm blieb, war die Einsicht in die politische Ohnmacht des Wissenschaftlers, der „getragen von dem Streben nach Klarheit und innere Unabhängigkeit, sich selbst durch seine übermenschlichen Anstrengungen die Mittel zu seiner äußeren Versklavung und seiner Vernichtung von innen her geschaffen hat“.

Die historisch gewordene Tatsache, daß wissenschaftliche Erkenntnisse und die darauf aufbauenden technischen Erfindungen nicht automatisch vor Mißbrauch geschützt sind, hat viele Wissenschaftler immer wieder zur Meinung veranlaßt, daß es sinnlos sei, den Wissenschaftler für den Mißbrauch seiner Erkenntnisse zur Verantwortung zu ziehen. Nicht der Erfinder sei zur Rechenschaft zu ziehen, sondern derjenige, der eine Erfindung mißbraucht. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Entdeckung der Kettenreaktion, wie Einstein selbst ausdrücklich sagt, nicht von der Erfindung der Zündhölzer.

Trotzdem ist damit nicht das Problem der Verantwortung gelöst. Denn es stellt sich bereits vor der begangenen Tat. Es ist aber nun eine Eigenart des Menschen, erst dann über Verantwortung nachzudenken, wenn das Unglück geschehen ist. Daher kann der Wissenschaftler keineswegs mit Hilfe einer falsch verstandenen Wertfreiheitsoder Neutralitätsthese naturwissenschaftlicher Erkenntnis aus der Verantwortung entlassen werden. Denn um Verantwortung überhaupt wahrnehmen zu können, benötigt man Wissen. Dieses Wissen ist ei-

nerseits das Wissen, was sich mit einer Entdeckung im guten und im schlechten Sinn anfangen läßt. Andererseits gibt es ein rational begründbares Wissen darüber, was gemacht werden darf und was nicht.

Die große Schwierigkeit ist aber, daß bei “einer hinreichend komplexen wissenschaftlichen Erkenntnis Zahl und Art ihrer möglichen Anwendungen von vornherein nicht bekannt sind. Deshalb wäre es auch absurd, Rutherford oder gar Einstein für Reaktorunfälle verantwort-lich zu machen, oder Gregor Mendel für die möglichen Folgen der Gentechnologie. Die Verantwortbarkeit wissenschaftlicher Entdeckungen wächst mit der wachsenden Kenntnis über deren Verfügbarkeit, die wiederum abhängig ist von Weiterentwicklung und Vervollkommnung einer Entdeckung oder Theorie.

Wie aber steht es mit dem Orientierungswissen, das meist der philosophischen Ethik und den normativen und deskriptiven Sozialwissenschaften als Aufgabenbereich zuge-

„Jede wissenschaftliche Entdeckung befindet sich in einem vorhandenen Wertsystem“

schrieben wird? Fest steht, daß sich jede wissenschaftliche Entdeckung oder technische Erfindung immer schon im Rahmen eines bereits vorhandenen Wertsystems befindet. Ein solches Wertsystem bildet die unbedingte Voraussetzung verantwortlichen Handelns. Denn verantwortlich handeln heißt nicht nur, daß man die Gesamtheit der bei einer Handlung voraussehbaren Folgen berücksichtigt, so weit dies überhaupt möglich ist, sondern daß man sich durch bestimmte Werte leiten läßt, die man bewußt gegenüber anderen Werten abwägt.

Jede rational begründete „Verantwortungsethik“ beruht daher auf einer Rangordnung der Werte, die sich jedoch ihrem Inhalt nach in der Geschichte der Menschheit ändern. Die Festsetzung dieser Rangordnung und der Inhalte der Werte, die unser reales Leben auf dieser Welt bestimmen, ist eine Aufgabe, die niemandem allein zugeschrieben wer-

den kann. Weder deskriptive Analysen der empirischen Sozialwissenschaften, noch die Spekulationen der philosophischen Ethik allein reichen dazu aus. Denn die einen haben keine normative Relevanz und die anderen sind zu allgemein. Ein konkretes Wertesystem, dessen interne Ordnung Entscheidungsgrundlage für verantwortungsvolle Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse bilden soll, ist vielmehr nur in einem interdisziplinären Argumentationsprozeß festzulegen, der dem jeweiligen Stand der Forschung entspricht.

Während jedoch das naturwissenschaftliche Sachwissen sich in geradezu beängstigender Weise angehäuft hat, ist das Orientierungswissen vernachlässigt worden. Das Fehlen einer dem heutigen naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt adäquaten „ethischen Kultur“ ist daher, wie schon Einstein festgestellt hat, die große Unterlassungssünde unserer Zivilisation. Sie wird jedoch nicht durch einseitige Schuldzuweisungen behoben.

Der „elfenbeinerne Turm“ ist heute ebensowenig ein Argument gegen den Wissenschaftler, wie der wütende und zugleich hilflose Vorwurf gegen Politiker, Militärs und Industrieunternehmer, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu mißbrauchen. Die Verantwortung muß gemeinsam getragen werden. Die grundsätzliche Einsicht dabei ist, daß die Menschheit in ihrer gegenwärtigen Bevölkerungsdichte der Industrieländer auf Naturwissenschaft und Technik nicht verzichten kann. Es ist sinnlos, in die Vergangenheit zurückzublicken, die übri-

gens nie „heil“ war, oder nach fremden Kulturen zu schielen. Ebensowenig kann man.sich, wie manche Philosophen und Geisteswissenschaftler es heute gerne tun, als ewige Neinsager gebärden und zugleich selbst die so verdammten Segnungen der technischen Zivilisation in Anspruch nehmen. Total verantwortungslos wäre es, mit apokalyptischen Untergangsvisionen Erkenntnis- und Entscheidungsfähigkeit zu lähmen.

Vielmehr wird es nötig sein, einen Teil des naturwissenschaftlichen Erklärungspotentials, insbesondere das der Biologie, für das Selbstverständnis des Menschen in einer von ihm veränderten Umwelt einzusetzen. Auf diese Weise tritt bereits mehr und mehr eine Naturwissenschaft vom Menschen neben die traditionellen geisteswissenschaftlich orientierten Humanwissenschaften. Darüber hinaus aber wird jeder Naturwissenschaftler aus eigener Verantwortung verpflichtet sein, einen beträchtlichen Teil seiner Arbeitszeit in kooperativer Weise dem Aufbau eines Orientierungswissens über die Neuordnung der Werte in einer durch seine Forschungsergebnisse veränderten Welt zu widmen. Und das muß er auch auf die Gefahr' hin tun, daß die Schnelligkeit des naturwissenschaftlichen Fortschritts leidet. Aber das ist kein Schaden. Denn dieser beschleunigte naturwissenschaftliche Fortschritt ist uns, moralisch gesehen, ohnehin bereits weit über unseren Kopf gewachsen.

Der Autor leitet das Institut für Wissenschaf ts-theorie und Wissenschaftsforschung der Universität Wien.

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