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Kein Ende mit Dreyfus

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Wohl in keinem anderen westlichen Land reagiert die öffentliche Meinung so sensibel auf Vorgänge innerhalb der Justiz wie in Frankreich. Dies mag mit einer besonderen Form des Denkens zusammenhängen, ist allerdings auch von der bedeutendsten Staatskrise der Dritten Republik, der Affäre Dreyfus abzuleiten.

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Wohl in keinem anderen westlichen Land reagiert die öffentliche Meinung so sensibel auf Vorgänge innerhalb der Justiz wie in Frankreich. Dies mag mit einer besonderen Form des Denkens zusammenhängen, ist allerdings auch von der bedeutendsten Staatskrise der Dritten Republik, der Affäre Dreyfus abzuleiten.

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Wenn heute der Historiker, bereits distanziert, die Geschichte dieses Falles aufrollt, wird er Leidenschaften feststellen, die bis in unsere Gegenwert reichen. Dieses Ereignis hat die Nation buchstäblich in zwei Lager gespalten und es der damaligen Linken gestattet, die feudalen Uberreste in der Rechtsprechung zu beseitigen. Seit in unseren Jahren so gut wie alle überlieferten Einrichtungen in Staat und Gesellschaft in Frage gestellt wurden, ist es nur zu verständlich, wenn auch die Justiz Mutierungen unterliegt und dem Sog eines umfassenden Erneuerungswillens nicht entgehen kann. Denn nach wie vor ist ein Prozeß, dank der noch heute geltenden Praxis, eine Angelegenheit, die in ihrer kalten Majestät die meisten Staatsbürger erzittern läßt. In unzähligen Büchern, Filmen und Abhandlungen wird das Phänomen der Justiz aufgegriffen, werden Reformwünsche vorgetragen. Diese in die Tiefe gehende Unruhe ist ein Phänomen, das sogar mittelbar die liberale Gesellschaftsordnung der Fünften Republik in Frage stellt. Vor allem ist es die Objektivität, die Richtern und Staatsanwälten obliegt, was gegenwärtig so heftige Diskussionen hervorruft. Die Beziehungen der Justiz zur Staatsführung werden ebenso durchleuchtet wie der Wunsch, die gesamte Nation an der Praxis der Gerichtshöfe unmittelbar teilnehmen zu lassen. Und gerade um die Objektivität geht es, wenn an Hand einiger Fälle das Funktionieren der Rechtsprechung in ein helles Licht gerückt wird. Wieder sind es Kreise, die ihre politische Heimat innerhalb der Linken Union haben, die das berühmte Wort des Dichters Zola „j'accuse“ wiederholen und von einer „Klassenjustiz“ sprechen, welche die reichen Bürger mit Samthandschuhen anfaßt, während ein armer Linksintellektueller zusehen muß, wie das Gespenst des Henkers nach ihm greift.

In diesem Zusammenhang sei an einen Fall erinnert, der monatelang Frankreich in Atem gehalten hat und die jetzige Entwicklung einleitete. Vor einigen Jahren wurde in einem Städtchen Nordfrankreichs das Kind eines Minenarbeiters ermordet. Der zuständige Untersuchungsrichter, Pascal, ließ jede Diskretion vermissen und wollte, dank dem Einsatz aller Massenmedien, die Bevölkerung an seiner Enquete teilnehmen lassen. Dadurch wurde eine heftige Kontroverse entfacht, die seither in gewissen Zeitabschnitten immer wieder aufflammt. Bedenklicher als die unorthodoxen Methoden desm Richters Pascal war jedoch die scharfe Politisierung dieser Affäre. Nachdem ein bekannter Notar in den Verdacht geraten war, der Täter zu sein, übernahm die extreme Linke bedenkenlos die These, ein Notabler sei automatisch ein Kindesmörder. So wurde die Theorie des Klassenkampfes auf eine Ebene gebracht, auf der sie wirklich nichts zu suchen hat. Später wurde ein höchst liederlicher Jugendlicher festgenommen, der den Mord gestand. Aber weder die Eltern des Opfers noch die Drahtzieher der Kampagne gegen den verdächtigen Juristen folgten den Schlußfolgerungen der Polizeibehörde, obwohl sie durchaus plausibel klangen. Neuerdings wird mit dem eigenartigen Argument gearbeitet, der Sohn eines Arbeiters töte eben nicht die Tochter eines Werktätigen. Bis zum heutigen Tag ist die zitierte Affäre im Halbdunkel von Vermutungen und Verdächtigungen steckengeblieben, denn der Jugendliche wurde mangels an Beweisen freigesprochen.

Daran anschließend löste ein anderer Prozeß Ressentiments verschiedener Art aus, diente monatelang den Massenmedien als beliebtes Thema und beschäftigte weithin die öffentliche Meinung. Diesmal stand ein authentischer Vertreter der Linken vor seinen Richtern und mußte sich vor der Anklage verteidigen, er habe während eines Raubüberfalles in einer Apotheke zwei Frauen getötet und zwei andere Personen, darunter einen Polizisten, schwer verletzt. Es handelte sich um den 32jährigen Pierre Goldman, der im Gefängnis das Buch „Dunkle Erinnerungen eines polnischen Juden, geboren in Frankreich“ publizierte. Dieser Band stand mehrere Wochen hindurch auf der Bestsellerliste, und dem Angeklagten wurde eine besonders hohe Intelligenzquote zugebilligt. Er studierte während seiner Haft und vermochte brillante Ergebnisse vorzuweisen. Pierre Goldman war zuerst Mitglied der kommunistischen Studentenorganisation und wandte sich dann der extremen Linken zu. Im .Dezember 1974 wurde er, der drei Hold-ups eingestand, zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Diese Raubüberfälle hat er stets zugegeben, sich aber mit letzer Energie gegen die Vermutung gewehrt, er habe Blut an den Fingern. Diesmal wiesen die Sprecher der Linken Union auf den Umstand hin, daß Pierre Goldman für die Anklagebehörde ein bequemes Objekt sei. Er sei Jude, sei eingestandenermaßen Gewalttäter und sei schließlich Mitglied einer revolutionären Gruppe. Von Anfang an wurden gewisse Zeugenaussagen, vor allem jene des verletzten Polizisten, mit Skepsis aufgenommen. Der aufmerksame Beobachter mußte, wo immer er politisch stand, anerkennen, daß die' Beweiskette der Staatsanwaltschaft unter keinen Umständen kritiklos hingenommen werden mußte. Wenn man von der Relativität jeder Zeugenaussage absieht, bleibt in der Waagschale für die Schuld Gold-mans wenig übrig. Kurz nach dem Urteil formierten sich bereits alle jene Intellektuellen, die ihr Hauptziel angeblich darin sehen, für die strenge Anwendung der Menschenrechte einzutreten. Natürlich gilt das nur für Kollegen aus den eigenen Reihen, und der Notar, von dem wir eingangs gesprochen haben, konnte sich nicht der Unterstützung eines Sartre oder einer Simone de Beauvoir erfreuen. Diese Gruppe von Linksintellektuellen, die in Paris den Ton angibt und meistens sehr einseitig Personen und Ereignisse beurteilt, kann mit einem breiten Echo in jenen Zeitungen und Zeitschriften rechnen, die den Triumph des Sozialismus in Frankreich prophezeien und vorzubereiten -suchen. Wie immer man zu dem Angeklagten Goldman stehen mag — während seines zweiten Prozesses, den die öffentliche Meinung durchgesetzt hatte, war ein Vorfall zu verzeichnen, der die Objektivität der Rechtsprechung tatsächlich bedroht. Der Angeklagte bezeichnete vereinfachend Zeugen, die gegen ihn aussagten, als „Faschisten“ oder als Anhänger der 1945 verschwundenen Ideologie von Vichy. Es ist höchst simpel, mit dieser gefährlichen Bezeichnung Andersdenkende zum Schweigen zu bringen. Pierre Goldman wurde im zweiten Verfahren von den beiden Morden freigesprochen und wird aller Wahrscheinlichkeit nach über kurz oder lang die Phalanx jener verstärken, welche die zeitgenössische Rechtsprechung Frankreichs als Druckmittel einer Klasse bezeichnen, die Richter und Staatsanwalt nur dazu benutze, die eigenen kapitalistischen Interessen zu zementieren.

Ähnliche Aspekte zeigen sich bei der Affäre Agret, die ebenfalls in den vergangenen Monaten die Gemüter bewegte. Roland Agret soll, gemäß der Anklage, zum Mord an seinem Chef, einem Tankstellenbesitzer, angestiftet haben. In diesem Rechtsfall wimmelt es von divergierenden Zeugenaussagen. Da wird etwa der Geist der gaullistischen Ordnungstruppe SAC beschworen, die sich bei dieser Untat eingeschaltet haben soll. Natürlich bekannte sich der Häftling Agret zur Linken Union und beschuldigte die Richter und die Staatsanwaltschaft, politischen Weisungen zu folgen und ihn, den Unschuldigen, mit der — schon wieder taucht das Wort auf — „Klassenjustiz“ zu konfrontieren. In höchst dramatischen Hungerstreiks und unterstützt von seiner Frau, greift der Verdächtige den Justizminister persönlich an, während die Liga für Menschenrechte Jean Le-canuet für das Leben Roland Agrets haftbar machen will. Die vorzüglich orchestrierte Pressekampagne trägt das ihre dazu bei, um eine zusätzliche Untersuchung zu erzwingen. Diese hat inzwischen stattgefunden und keinen neuen Sachverhalt zutage gebracht. Da aber eine Reihe von ideologischen Interessen auf dem Spiel steht, kann dennoch mit einer Revision des Prozesses Agret gerechnet werden. Aber die Entwicklung, wie sie sich mit den angeführten Fällen abzeichnet, schafft immer größere Rechtsunsicherheit und bedroht die Substanz einer Institution, vor welcher jeder Staatsbürger, ohne Unterschied der Rasse oder der politischen Einstellung, dieselbe Beurteilung finden sollte.

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