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Kein Ersatz für die Familie

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„Die Ganztagsschule ist kein Familienersatz.“ Darin sind sich Befürworter und Gegner einig. Das aber ist der einzige Punkt. Denn seit den Diskussionen um die Einführung der Fünftagewoche für die Schulen ist auch das Projekt Ganztagsschule erneut in das allgemeine Schußfeld geraten. Befürworter und Gegner wärmen alte Argumente auf und suchen nach neuen. Während die einen darüber klagen, daß in Wien noch nicht einmal das Plansoll von einer Ganztagsschule pro Bezirk erfüllt sei, sehen sich die anderen bereits einem uniformierten Schulbetrieb von lauter Ganztagsschulen gegenüber - das vor allem, seit zu vernehmen war, daß die Fünftagewoche die Ganztagsschule bedinge.

Die generelle Einführung der Ganztagsschule ist trotzdem vorläufig nicht zu befürchten. Sie wäre auch in keiner Weise begrüßenswert, würde das doch bedeuten, den Eltern die Entscheidung über das Wohl ihrer Sprößlinge weitgehend aus der Hand zu nehmen und Vater Staat das volle Verfügungsrecht einzuräumen. Trotzdem - in jenen Fällen, in denen beide Elternteüe berufstätig sind, oder in Notsituationen, in denen nur ein Elternteil vorhanden ist, wirkt die Ganztagsschule wenn schon nicht als Familienersatz, so doch als deren Ergänzung. Wobei ihre Effizienz weitgehend von der Qualität der Lehrer und Erzieher abhängt. Eine bessere pädagogische Ausbildung vor allem für die Lehrer einer Ganztagsschule sollte daher als unbedingte Voraussetzung gefordert werden.

Kinder ohne Aufsicht

Der Versuch Ganztagsschule entstand aus einer geänderten Familiensituation. Durch die Berufstätigkeit der Frau bleibt das Kind in vielen Fällen sich selbst überlassen, ohne Aufsicht, ohne schützenden Familienverband. Die Folgen sind Kontaktarmut, Ich- Bezogenheit, in schweren Fällen Verhaltensstörungen und Kriminalität. Die Ganztagsschule möchte hier ein Vakuum füllen, den Kindern neben dem Lehrstoff auch Möglichkeiten der Freizeitgestaltung bieten, zu sozialem Verhalten anregen. Daß immer mehr Eltern - auch wenn das Familienleben intakt ist oder die Mutter zu Hause bleibt - ihr Kind in eine Ganztagsschule geben wollen, hat viele Gründe. Zum einen ist da die verlockende Aussicht auf ein freies Samstag-Sonn- tag-Wochenende, zum anderen gibt es keine Hausaufgaben, was meist vor allem für die Mutti eine große Entlastung bedeutet. Außerdem weiß man sein Kind den ganzen Tag gut versorgt und kann somit besser eigenen Betätigungen nachgehen. Von manchen Eltern wird dies aber auch dahingehend ausgenützt, daß sie sich dann gar nicht mehr um den Schulfortschritt ihres Kindes kümmern; das war in Gesprächen mit etlichen Lehrern und Schuldirektoren zu erfahren. Darin liegt die Gefahr: manche Eltern wollen so ihr Kind abschieben, sich der Verantwortung entledigen.

In Wien gibt es bis jetzt vier Volks-

schulen und drei Hauptschulen, die als Ganztagsschulen geführt werden. An Gymnasien wurden bislang lediglich Tagesheimschulen eingerichtet. Das Geld ist knapp. Ganztagsschulen brauchen mehr Lehrer, mehr und besser eingerichtete Räume, sie brauchen Grün- und Sportanlagen. Das alles kostet Geld.

Karge Freizeit

Die meisten Schulgebäude, besonders jene in der Wiener Innenstadt, sind dafür auch gar nicht geeignet. Man hat sich daher auf die Außenbezirke verlegt, wo bessere Auslaufmöglichkeiten vorhanden sind. Frische Luft und Sport sind für Kinder, die bis zum späten Nachmittag in der Schule bleiben (in der Hauptschule bis 17.30 Uhr, in der Volksschule bis 15.30 Uhr) unbedingt notwendig.

Hier zeigt sich sofort ein Hauptproblem: die karg bemessene Freizeit. Durchschnittlich haben Volks- wie Hauptschüler sechs bis sieben freie Stunden pro Woche. In den höheren Klassen weniger, wobei die 4. Volksschulklasse für Mädchen besonders schlecht abschneidet: Hier gibt es infolge reichlicher Handarbeitsstunden nur noch eine Freizeitstunde wöchentlich. Eine Schwierigkeit, mit der auch die Schüler einer Halbtagsschule konfrontiert werden, mit dem Unterschied, daß sie sich die Zeit zu Hause entsprechend einteilen müssen.

Trotzdem scheint die Ganztagsschule eher geeignet, der häufig gestellten Forderung nach einer „Entrümpelung“ des Lehrstoffes gerecht zu werden: Die Lehrer sind dafür verantwortlich, daß der durchgenommene una in einer Ubungsstunde wiederholte Stoff auch sitzt, sie werden daher eher bemüht sein, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen. An der Halbtagsschule können sie sich allzu leicht auf die Hausaufgaben und dantit auf die Mitarbeit TSerEltern verlassen. ‘ - "

Ein gelungenes Beispiel einer Ganztagsschule ist die Volksschule am Prohaskaplatz im 10. Wiener Gemeindebezirk, in der sieben Ganztagsklassen neben sieben Halbtagsklassen geführt werden. Das moderne Gebäude ist großzügig angelegt mit vielen Grünflächen und Innenhöfen. Es gibt hier Spielzimmer, eine Bibliothek mit weichem Teppichboden, auf dem die Erstklässler ihren Mittagschlaf halten, und Räume für Hobbykurse wie kochen, malen oder musizieren.

Volksschüler fügen sich im allgemeinen leichter in einen ganztägigen Schulbetrieb, sie sind mit dem Spielzeug in der Spielecke zufrieden. Problematischer wird der Sektor „Freizeitgestaltung“ in der Hauptschule, und im Gymnasium schließlich ist die Individualität des Schülers, sein Bedürfnis nach Räumen, in die man sich bei Bedarf zurückziehen und eigenen Vorstellungen nachhängen kann, bereits so groß, daß eine Ganztagsschule keine akzeptable Lösung mehr bietet.

Die „Verschulung“

Die Frage nach der „Verschulung“ stellt sich trotz meist recht reichhaltigem Freizeitangebot. Wenn die Kinder selbst ihre Freizeit unter Aufsicht von Lehrern und Erziehern verbringen - führt das nicht zu einer totalen Verwaltung des Individuums, zerstört das nicht den letzten Rest von Eigeninitiative, die Lust an der Entdeckung, am Wagnis, am Abenteuer? Welche Möglichkeiten der Selbstverwirklichung bleiben aber dem Kind in einer urba- nen Gesellschaft überhaupt noch? Das auf den Straßen spielende Kind, der herumlungernde Jugendliche sind Beweis genug, wie dürftig es damit bestellt ist. Eine Ganztagsschule bieget immerhin die Möglichkeit, einen gewissen Rhythmus zwischen konzentriertem Lernen, weniger konzentriertem Üben und entspannender Freizeit einzuhalten, sie schafft Anregungen und ermöglicht soziale Kontakte dort, wo die Famüie nicht oder nur unzureichend imstande ist.

Sie sollte als das betrachtet werden, was sie ist: als eine Möglichkeit unter vielen.

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