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Kein Grund zum Feiern

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Sie feierten den fünften Geburtstag, aber es gab keinen Grund zur Freude: Am 30. Oktober 1973 hatten in Wien die Gespräche zwischen Vertretern der NATO und der Warschauer-Pakt-Staaten über eine Reduzierung von Truppen und militärischen Einrichtungen in Mitteleuropa begonnen - eine Konferenz, die zuerst mit den Initialen MBFR („Mutual Balanced Force Reduction“ - „Gegenseitige ausgewogene Truppenreduzierung“) bekannt wurde. Später ging man auf die unaussprechbare Bezeichnung MURFAAMCE („Gegenseitige Reduzierung von Truppen und Rüstung und assoziierte Maßnahmen in Zentraleuropa“) über, weil sich die Sowjets am Wort „bal-N anced“ (ausgewogen) stießen.

Der fünfte Geburtstag der Truppenabbaukonferenz fiel mit der 183. Plenarsitzung im Wiener Redoutensaal zusammen - eine Sitzung wie die 182 vorhergegangenen, ausgefüllt mit Beschuldigungen und Gegenanklagen.

Die europäischen NATO-Staaten hatten vor mehr als fünf Jahren einer räumlichen und zeitlichen Trennung der Truppenabbaugespräche von den allgemeinen Verhandlungen über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zugestimmt - aus Angst vor einem einseitigen amerikanischen Rückzug im Gefolge des Vietnam-Debakels. Daher sollte dieser Truppenabbau der Amerikaner so rasch wie möglich in einen wechselseitigen Ost-West-Truppenabbau integriert werden.

Die Angst vor einem einseitigen Abzug der Amerikaner ist inzwischen langst abgeflaut, die Wiener Gespräche treten allerdings weiterhin an Ort und Stelle. Und in westlichen Kreisen ist man inzwischen auch zur Uberzeugung gekommen, daß die Trennung militärischer Fragen von der Europäischen Sicherheitskonferenz ein schwerer Fehler gewesen war. Die Sowjets hatten unter allen Umständen eine Gipfelkonferenz herbeiführen wollen, wie sie dann auch vor mehr als zwei Jahren in Helsinki stattfand. Um den Erfolg dieser - ihrer - Konferenz zu sichern, wären die Russen wohl auch zu Konzessionen in Sachen Truppenstärke bereit gewesen.

Der Westen gesteht noch einen zweiten Fehler ein: Es sei falsch gewesen, die Wiener Gespräche auf Truppen in Mitteleuropa zu beschränken. 1973 bestand tatsächlich die größte Konzentration östlicher und westlicher Truppen entlang des Eisernen Vorhangs zwischen Nordsee und Böhmerwald. Heute wird der nördlichste Abschnitt als potentieller Krisenherd angesehen, wo einer gigantischen Konzentration sowjetischer Truppen im Raum Murmansk nur relativ schwache norwegische Truppen gegenüberstehen.

Es wäre vielleicht zynisch, den Mangel an Fortschritten bei den Wiener Truppenabbau-Gesprächen auf böse Absichten der einen oder ande-

ren Seite zurückzuführen. Tatsächlich kamen die Verhandlungen nicht vorwärts, weil es den Teilnehmern bis vor einigen Monaten nicht gelungen war, sich über die Ausgangspositionen zu einigen. Die Warschauer-Pakt-Staaten vertraten die Ansicht, in Mitteleuropa bestehe bereits ein militärisches Gleichgewicht. Beide Seiten hätten daher ihre Truppen im gleichen Maß prozentuell reduzieren müssen, um weder Ost noch West einseitige Vorteile zu bringen.

Der Westen hingegen sprach von einem militärischen Ubergewicht des Ostens: 777.000 NATO-Truppen gegenüber 925.000 Mann der Warschauer-Pakt-Armeen. Aufgabe der Gespräche war es daher in der Sicht der NATO-Staaten, ein Gleichgewicht herzustellen.

Viereinhalb Jahre kam man über die Ausgangspositionen nicht hinaus. Im Frühjahr dieses Jahres schien sich dann plötzlich doch ein Durchbruch anzubahnen. Zumindest meinten das die Optimisten.

Am 19. April machte die NATO dem Warschauer Pakt das Angebot, für den Abzug einer sowjetischen Gardepanzerarmee aus der DDR mit 68.000 Mann und 17.000 Panzern ihrerseits 29.000 amerikanische Soldaten, 90 Atomwaffenträger und 1000 Nuklearsprengköpfe zurückzunehmen.

Die Warschauer-Pakt-Staaten konterten am 8. Juni 1978 mit einem eigenen Vorschlag, der sich vorerst wie eine radikale Änderung der östlichen Politik las. Diese erste formal erkenntliche Positionsänderung des Ostens bezog sich auf einen teilweisen Verzicht auf die Festlegung nationaler Höchstgrenzen bei den Truppenstärken beider Seiten und ein Eingehen auf die westliche Forderung, die Reduzierungen auf Bodentruppen zu beschränken. Darüber hinaus war der Osten bereit, seine Truppenstärke um 105.000 Mann zu reduzieren, während der Westen nur 91.000 Mann „abbauen“ müßte, um eine gemeinsame Höchstgrenze von 700.000 Mann (900.000 mit Luftwaffe) zu erreichen.

Der östliche Kompromißvorschlag war allerdings an einige Sicherheitsklauseln gebunden, die deutlich die Angst der Sowjetunion vor der deutschen Bundeswehr widerspiegelten.

Bei der folgenden Sitzung forderten die NATO-Vertreter Aufklärung über gewisse Punkte des östlichen Vorschlags. Die Vertreter des Warschauer Pakts antworteten, zuerst sollte der Westen die sowjetischen Vorschläge akzeptieren, dann würde man auch die gewünschte Aufklärung geben. Darauf ging der Westen nicht ein: ohne vorherige Klarstellung könne es keine prinzipielle Antwort geben.

Womit die Konferenz wieder vor jener unbeantwortbaren Frage steht: Was war zuerst da, die Henne oder das Ei?

Institut für Friedensforschung, Universität Wien

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