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Kein günstiger Zeitpunkt!

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Als Gymnasiast hat mich ein Ausspruch Kardinal Newmans beeindruckt, daß die Engländer schon ihre Mittelschüler zu „Sirs“ erziehen, indem sie den Zöglingen ihrer berühmten Internate Zylinder aufs Haupt setzen. Durch diese Kopfbedeckung wird man nämlich sozusagen von selbst zum „Schreiten“ angehalten, am Laufen und Raufen gehindert. Der Kern dieser Behauptung, daß offenbar das Äußere nicht nur als Spiegel des Inneren anzusehen ist, sondern man durch Gestaltung des Äußeren auch das Innere umformen könne, scheint dem jüngsten Vorschlag für die Parlamentsreform zugrunde zu liegen, daß nämlich die Partei, die als Mehrheit die Regierung stellt, jeweils rechts vom Präsidenten sitzen solle — die Opposition dementsprechend immer links — und daß die Abgeordneten von ihren jeweiligen Sitzen aus sprechen könnten.

Nun muß man kein verknöcherter Konservativer sein, um allein gegen die Tatsache Bedenken zu hegen, daß durch den ersten Teil des Reformvorschlages der österreichische Parlamentarismus unversehens aus seiner gewachsenen Tradition herausgerissen würde. Es ist nun einmal so, daß seit der Französischen Revolution in den kontinentalen europäischen Parlamenten zwischen „rechten“ und „linken“ Parteien unterschieden wird. Eines der angeführten Motive für eine solche Reform — „Es täte außerdem vielleicht den Sozialisten recht gut, wenn sie einmal, ,Rechte' und der ÖVP, wenn sie .Linke' wären“ — könnte überdies leicht politische Kabarettisten auf den Plan rufen: Soll etwa die geänderte Sitzungsordnung der ÖVP abnehmen, was ihre Programmdiskussion nicht zustande bringt, nämlich nach „links“ zu rücken? Und soll anderseits die geänderte Sitzordnung verdeutlichen, daß linke Parteien, wenn sie in die Regierungsposition gelangen, zu „rechten“ werden?

Alles in allem: Ich glaube, daß jetzt kein günstiger Zeitpunkt für eine solche „richtigere Gestaltung des Parlamentarismus“ wäre. Wenn man schon von der Sitzordnung her zur Parlamentsreform beitragen will, so läge eher der Gedanke nahe, diesbezüglich bei der zweiten Kammer des österreichischen Parlaments zu beginnen: Im Bundesrat — der Länderkammer — wäre es vielleicht wirklich sinnvoller, wenn dort die Vertreter der Bundesländer nicht wie im Nationalrat nach politischen Parteien, sondern eben nach Ländern geordnet säßen. Im übrigen aber ist das, was man als „Parlamentsreform“ bezeichnet, ein schwieriges und umfangreiches Unterfangen.

Meiner ganz persönlichen Meinung nach müßte es sich hinsichtlich des österreichischen Parlaments in etwa drei Stufen vollziehen: 1. Geschäftsordnungsreform, 2. Reform des parlamentarischen Hilfsapparates, 3. Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Mitglieder beider Kammern.

Diese Reihenfolge hat eine gewisse Logik, denn aus der Gescnajisord-nung ergeben sich die Aufgaoenstei-lungen auch für den parlamentarischen Hilfsapparat, und dessen Verbesserung wieder kommt allen Abgeordneten zugute, so daß man angesichts der beschränkten buage-lären und räumlichen Möglichkeiten wohl die Reform der zentralen tm-ncMungen vor jener der Arbeitsbedingungen für den einzelnen Abgeordneten rangieren lassen muß.

An die Reform ihrer Geschäftsordnungen sind beide Kammern des österreichischen Parlaments geschritten. Die hiebei zu leistende Arbeit ist schwer populär zu maohen. Zwar wurde schon oft betont, welche Gefahren eine lückenhafte Geschäftsordnung oder eine solche mit widersprüchlichen Bestimmungen heraufbeschwören kann; trotzdem haben Zeitungs- und Zeitschriftenschreiber unseres Landes hiefür kaum etwas übrig. Gefragt sind sichtbare Neuerungen, wie zum Beispiel die Einführung der Fragestunde durch die Geschäftsordnungsreform 1961 im Nationalrat. Daß diese Reform anderseits die Un-systematik und Widersprüchlichkeit der Normen für das parlamentarische Verfahren um einiges bereichert hat, spielt bei Laien eine geringere Rolle.

Um so verdienstvoller finde ich den Weg, den beide Kammern der österreichischen Bundesgesetzgebung jetzt eingeschlagen haben: Das paragraphenweise Durchackern der geltenden Geschäftsordnungsbestimmungen — und zwar zunächst in ausgewählten Komitees, noch vor der offiziellen Befassung der Geschäftsordnungsausschüsse. Gelingt es, in der begonnenen, mühsamen und wenig spektakulären Art und Weise weiter zu verfahren, so winkt als Lohn die erste systematische Geschäftsordnungsreform seit Bestand der Republik Österreich! Man darf nämlich nicht außer Acht lassen, daß im totalen Zusammenbruch des Jahres 1918 die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses mehr schlecht als recht von der Provisorischen Nationalversammlung übernommen wurde und daß seither die Konstituierende Nationalversammlung so wie der Nationalrat immer nur Flickwerk vollbrachten, weil man sich nie an eine systematische Gesamtreform heranwagte. Nur so ist auch zu erklären, daß nicht wenige Bestimmungen der geltenden Geschäftsordnungen den Geist der konstitutionellen Monarchie atmen, mit der republikanisch-demokratischen Verfassung unseres Staates aber kaum in Einklang stehen. Dieses ungeheure Nachhinken wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, daß ja die von Kelsen und Renner entworfene Bundesverfassung heute auch schon wieder hinter den Realitäten der modernen, parteienstaatlichen Demokratie, des Sozialstaates mit seiner Leistungsverwaltung, zurückbleibt.

Die Reorganisation des parlamentarischen Hilfsapparates ist die nach der Reform der Geschäftsordnungen wohl zweitwichtigste Aufgabe. Selbst ärmere Länder mit einer weit weniger imponierenden parlamentarischen Tradition sind in dieser Hinsicht der österreichischen Volksvertretung weit voran. Der Tatsache, daß es neben dem Nationalrat auch noch einen Bundesrat gibt, wird sich die österreichische Parlamentsadministration erst allmählich bewußt. Einer der größten Mängel besteht ferner darin, daß es eine Öffentlichkeitsarbeit des Parlaments eigentlich nicht gibt. Wenn die Öffentlichkeit vom Parlament Kenntnis nimmt, dann meist nur durch die Sogenannte freie Berichterstattung von Fernsehen und Rundfunk oder durch Pressegespräche der Fraktionsobmänner. In einer Zeit, in der Werbung und Public-Relations-Ar-beit so ungeheuer viel bedeuten, fallt dieser Mangel sehr schwer ins Gewicht, erklärt aber beispielsweise auch, warum bei der Neuregelung der Politikerbezüge, beziehungsweise bei deren Besteuerung die öffentliche Meinung so wenig Verständnis für die Abgeordneten aufbrachte.

Daß schließlich die Arbeitsbedingungen der Mitglieder beider Kammern des österreichischen Parlaments so unzureichend sind wie kaum anderswo, ist jedem mit unserem parlamentarischen Betrieb nur einigermaßen Vertrauten längst bewußt. Angesichts der Fülle der Probleme also, die im Interesse unserer parlamentarischen Demokratie dringend einer Lösung harren, scheint es doch eine sehr untergeordnete Frage, ob der Nationalrat die Sitzordnung des englischen Parlaments übernehmen und ob der jeweilige Debattenredner im Nationalrat von seinem Platz aus sprechen soll oder nicht.

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