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Kein „Ja mit Herz“ zum Kanton Jura

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Am 24. September steht das Schweizer Volk vor einer seiner wichtigsten Entscheidungen seit Bestehen des Bundesstaates. Es muß an der Urne sein Ja oder Nein zum neuen Kanton Jura abgeben. Damit soll auch der Schlußstrich unter eine 163jährige Fehlentwicklung gezogen werden. Grund genug, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen: Der Schweizer Journalist Peter Schellenberg schildert hier die historische Entwicklung und gegenwärtige Tendenzen. Professor Theodor Veiter durchleuchtet die Problematik aus völkerrechtlicher Sicht.

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Am 24. September steht das Schweizer Volk vor einer seiner wichtigsten Entscheidungen seit Bestehen des Bundesstaates. Es muß an der Urne sein Ja oder Nein zum neuen Kanton Jura abgeben. Damit soll auch der Schlußstrich unter eine 163jährige Fehlentwicklung gezogen werden. Grund genug, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen: Der Schweizer Journalist Peter Schellenberg schildert hier die historische Entwicklung und gegenwärtige Tendenzen. Professor Theodor Veiter durchleuchtet die Problematik aus völkerrechtlicher Sicht.

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Wäre die Schweiz eine parlamentarische Demokratie, wäre der endgültige Segen zur Schaffung des 23. Kantons, des Jura, lediglich eine Formalität. Die erklärten Gegner sind in beiden Kammern zusammen an zwei Händen abzuzählen, eine komfortable Vierfünftelmehrheit im Parlament wäre dem jüngsten Sproß unter den eidgenössischen Ständen sicher.

Doch die Schweiz praktiziert bekanntlich die direkte Demokratie und da nützen parlamentarische Mehrheiten - die jüngste Vergangenheit hat das oft überdeutlich gezeigt - recht wenig. Und so wird das „staatspolitische Ereignis“, so Justiz- und Polizeiminister Kurt Furgler, zum mit Bangen erwarteten Prüfstein für die Toleranz und die politische Vernunft der Schweizer Demokraten.

Es war 1815, als die Sieger über Napoleon am Wiener Kongreß Europa neu/ verteilten. Dazu gehörte auch das Fürstbistum Basel, das unter Napoleon als Departement Frankreich angeschlossen wurde und jetzt unter der Verfügungsgewalt der alliierten Mächte stand. Ungefragt wurde die Bevölkerung zum Kanton Bern geschlagen, obwohl sie lieber als eigenständiger Kanton in die Eidgenossenschaft eingezogen wäre.

Auch die Berner waren über die „Neuzuzügler“ nicht begeistert, nahmen die Anderssprachigen aber dennoch auf, als Kompensation für die verlorenen Untertanengebiete Waadt und Aargau. Doch die „Zwangsberner“ faßten nie Vertrauen zum übrigen Kanton, nicht nur der verschiedenen Sprachen wegen- im Jura spricht man französisch, im Kanton Bern deutsch. Auch die Religion war verschieden: katholisch im Nordjura, protestantisch im Südjura und im Kanton Bern. Darin zeigte sich auch schon früh, daß der Jura in sich keine Einheit war.

Einmal fanden sich der Nord- und Südjura zur Einheit, anläßlich der Affäre Möckli. Die Legislative des Kantons Bern, der Große Rat, hatte sich geweigert, dem jurassischen Regierungsrat (Exekutive) Georges Möckli die Baudirektion zu übertragen. Eine Protestwelle erfaßte den ganzen Jura und führte zur Gründung eines Komitees, das alle politischen Kreise umfaßte und Autonomieforderungen stellte.

Das .jurassische Volk“ allerdings, das im Südjura zu einem guten Teil aus zugewanderten Bernern bestand, teilte sich endgültig: Die Separatisten formierten sich im „Rässemblement Jurassien“, die berntreuen nannten ihre Vereinigung „Force Democratique“.

Mit der Ablehnung jurassischer Forderungen waren die demokratischen Möglichkeiten, die Autonomie zu erlangen, nach Ansicht der Separatisten erschöpft. Gewalt machte sich breit. Zahlreiche Demonstrationen mit rabiatem Ausgang fanden statt, Bomben explodierten, das eidgenössische Parlament wurde gestürmt. Man begann, den Jura mit Nordirland zu vergleichen. Separatisten und Antisepa-ratisten, sie genossen oft den Schutz der Berner Polizei, bekämpften sich hart und unnachgiebig.

Unter diesem enormen Druck fand sich die bernische Regierung bereit, durch eine Verfassungsänderung, die sie jahrelang verweigert hatte, den Weg für eine demokratische Regelung des Konflikts zu öffnen. Verschiedene Abstimmungen endeten damit, daß sich der Südjura für den Verbleib beim Kanton Bern entschied, der Nordjura die Gründung eines neuen Kantons beschloß.

Im Nordjura wurde die Gründung des neuen Kantons zügig an die Hand genommen. Nur wenige Monate brauchte der gewählte Verfassungsrat, um eine moderne, fortschrittliche Verfassung zu entwerfen, um die sie viele Bürger in den alten Kantonen beneiden werden. Sie wurde 1977 von der Bevölkerung des zukünftigen Kantons mit überwältigendem Mehr angenommen.

Die beiden Kammern des eidgenössischen Parlaments, die die neue Verfassung zu „gewährleisten“ hatten, strichen allerdings einen Artikel, der die Wiedervereinigung des Nord- und Südjuras erwähnte. Ebenfalls Zustimmung fanden in beiden Kammern die notwendigen Verfassungsänderungen, die zur gesamtschweizerischen Anerkennung, des neuen Kantons notwendig sind. Doch zu diesen Änderungen der Verfassung hat auch das Volk seinen, Segen zu geben. Sie unterliegen dem .obligatorischen Referendum, das am kommenden 24. September nun stattfindet.

Noch einmal prallen in diesem Abstimmungskampf an der rhetorischen Front - bis jetzt glücklicherweise ohne Gewaltanwendung - unbewältigte Vergangenheit und reaktionäre Denkmuster aufeinander. Dennoch beschloß der Kongreß der „Force Democratique“ nicht etwa Ablehnung, sondern Stimmfreigabe.

Gemäßigter und vordergründig auch sachlicher geben sich die Gegner in der übrigen Schweiz, die sich unter der Führung einer Handvoll Parlamentarier in einem Aktionskomitee zusammengeschlossen haben. So wird etwa der neue Kanton als „nicht lebensfähig“ bezeichnet, weil er zu klein und zu arm sei.

Auch die Frage der Konfession bleibt nicht ausgespart. Vor allem in erzprotestantischen Kreisen wünscht man keinen neuen katholischen Stand, der die Verhältnisse beim Ständemehr in Volksabstimmungen noch eindeutiger zugunsten der katholischen Kantone verändern könnte. Vor allem aber stehen immer wieder die gewesenen Gewaltakte im Vordergrund, wobei von den Gegnern geflissentlich übersehen wird, daß auch die Antisepara-tisten und nicht zuletzt die Berner Polizei immer wieder Gewalt angewendet haben.

Auch auf der Befürwörterseite sind die, die in voller Begeisterung zum neuen Kanton stehen, nicht eben zahlreich. Einem „Ja mit Herz“ haben deshalb die Befürworter ein „Ja der Vernunft“ vorgezogen. Der Unterschied ist unübersehbar.

Die Gewaltakte, die wohl auch von den meisten Befürwortern den Separatisten angelastet werden, sind zu tief im Gedächtnis eingegraben. So ist das „Ja der Vernunft“, das Ja der Realisten, die eingesehen haben, daß ein. Nein am 24. September kein einziges Problem löst, sondern nur sämtliche bisherigen Erscheinungen, hin bis zur Gewalt, wieder aufleben lassen würde. Ein Zurück zum Kanton Bern kann es sowieso nicht mehr geben und eine Ablehnung würde wohl die Unterstellung des Nordjura unter Bundesaufsicht bedeuten.

Antwortet das Volk aber am 24. September mit Ja, ist damit auch unmißverständlich ausgedrückt, daß es von den Autonomisten erwartet, daß sie im Südjura Ruhe einkehren lassen und undemokratische Aktivitäten aufgeben.

Doch es gibt Orte, wo die Antisepara-tisten nur hauchdünne Mehrheiten haben. Ob dies deshalb gelingen wird, hängt allerdings auch von den südjurassischen AntiSeparatisten ab, deren Mittel auch nicht eben wählerisch sind. Es ist zu fürchten, daß es auch nach der Annahme des Jura als 23. Kanton der Eidgenossenschaft weiterhin ein Jura-Problem geben wird: Dasjenige des Süd-Jura!

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