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Kein lettisches Gold

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Mehr als vergangene ist das heurige Jahr in der Sowjetunion durch die Abwesenheit jeglicher Gleichberechtigung im Bunde der nationalen Republiken gekennzeichnet. Mehrmals sah sich der Kreml gezwungen, einzugreifen: in der Ukraine, in Armenien, Georgien, und besonders in den baltischen Staaten. Hier wird die Russifizierung der heimischen Bevölkerung besonders intensiv betrieben, was immer wieder heftige Reaktionen auslöst.

Und in diesem Raum wird das nationale Problem durch konfessionelle Unterschiede noch weiter kompliziert: Die Bevölkerung in den baltischen Ländern ist in ihrer überwältigenden Mehrheit katholisch; Hand in Hand mit der Russifizierung schreitet hier die Unterdrückung der katholischen und die Bevorzugung der fügsamen russisch-orthodoxen Kirche vor sich.

Die angesammelten Spannungen zwischen den Russen und den baltischen Völkern, die nach der russischen Kolonisation heute nur noch eine hauchdünne ethnische Mehrheit besitzen, haben sich im Jahre 1972 in wahren Stürmen und Rebellionen entladen. Auftakt hiezu war der Freitod durch Selbstverbrennung des Studenten Thomas Kalanta in Kaunas, und eines weiteren jungen Litauers. Es kam zu regelrechten Straßenschlachten mit der Polizei, Polizeifahrzeuge wurden in Brand gesteckt und viele Bürger — besonders Studenten und junge Arbeiter — wurden verhaftet und zu Freiheitsstrafen verurteilt. Die Urteile sind relativ milde ausgefallen, was darauf hinzudeuten scheint, daß sich der Kreml für die Erhaltung von Ruhe und Ordnung mit Hilfe von Zuckerbrot und Peitsche entschieden hat. Die Dosierung beider wird je nach momentaner Nützlichkeit verabreicht. Neben der „festen Hand“ triumphiert die Ideologie und die prosowjetische Propaganda. Ein Grund für Propaganda kann immer gefunden werden.

Es liegt in der Natur der Dinge, daß man nach den Unruhen des Frühjahrs Schuldige gesucht hat. Blitzableiter war diesmal die ungenügende ideologische Arbeit, waren die Künstler und die Massenmedien, besonders aber das Fernsehen. Nach dem Austausch einiger leitender Mitarbeiter des lettischen Fernsehens in Riga kam es zur „Stärkung der Kader“ und zu Programmänderungen. Einer der Männer, die in den Vordergrund rückten, ist der frühere Stellvertreter des Chefredakteurs, A. Lapin, der bereits in einem programmatischen Artikel dargelegt hat, auf welche Weise das lettische Fernsehen die Befehle Moskaus ausführen will. Lapin nennt es die „Realisierung' der Leninschen Prinzipien der Nationalitätenpolitik“ und funktioniert diese um in eine „Grundlinie für die Tätigkeit des lettischen Fernsehens“. Genosse Lapin kündigte neue Formen, neue Arten von Sendungen und auch dokumentarische Folgen an.

Lettische prosowjetische Propagandisten betonen heute die Verdienste derer, die sich 1940 für die Eingliederung Lettlands in die UdSSR eingesetzt haben. Darüber hat man seit eh und je diskret geschwiegen, damit das nationale Gefühl der Letten nicht verletzt werde und um alte Wunden nicht aufzureißen; denn die Mehrheit betrachtet den Bund mit der Sowjetunion als eine Besetzung ihres Landes. Jetzt sollen die „Verdienten“ von damals vor das Volk treten und in einer Reihe von Sendungen die Ereignisse vor 32 Jahren schildern.

Die Verwischung der nationalen Identität und das Hervorzaubern der Illusion einer sowjetischen Einheit wird programmatisch betrieben und in allen Bereichen gezielt durchgeführt.

Da vom Fernsehen die Rede ist, soll ein charakteristisches Detailstück nicht unerwähnt bleiben: Den Kommentatoren des zentralen sowjetischen Fernsehstudios in Moskau wurde auferlegt, bei Reportagen über die Münchner Olympischen Spiele die jeweilige Nationalität sowjetischer Olympioniken nicht zu nennen. Der Grund ist leicht verständlich, wenn man sich den hohen Anteil der Sportler aus den baltischen Staaten an den Erfolgen der Sowjetunion vergegenwärtigt.

Sportler aus dem kleinen Lettland allein gewannen schon in Tokio mehr Gold als die Olympiamannschaft von Großbritannien, Frankreich, der Tschechoslowakei, Schwedens und anderer wesentlich größerer Nationen.

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