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Kein miracolo

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In seinen „Welthistorischen Betrachtungen“ hat der Basler Historiker Jakob Burckhardt vor 100 Jahren die Unterscheidung zwischen beschleunigten und ruhigen Perioden getroffen. Manchmal geschieht in wenigen Monaten und Jahren weit mehr als in Jahrzehnten und Jahrhunderten. In der Französischen Revolution wurde 1789 fast über Nacht eine feudalistisch-absolutistische Gesellsohafts- und Staatsordnung weggefegt, die in ihrer Art, der Vorherrschaft des Adels, mehr als tausend Jashre bestanden hatte.

Heute stellt sich die Frage, ob der Italienische Staat wiederum, genau das dritte Mal seit seiner Gründung vor 115 Jahren, in die Phase einer beschleunigten Periode tritt. Stehen wir vor dem Emde der 30jährigen christlich-demokratischen Vorherrschaft, da die Democrazia-Cristiana sämtliche Ministerpräsidenten und die meisten Minister stellte und sozusagen in allen Belangen das gute und schlechte Wetter im Stiefelland machte? Befinden wir uns wiederum in einer Übergangssituation wie zwischen 1943 und 1948, als das 20jährige faschistische Regime von den alliierten Truppen und den italienischen Partisaneneinheiten überwunden wurde, aber noch nicht feststand, was an seine Stelle treten werde? Ist die heutige Situation vergleichbar mit jenen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als die Liberalen entmachtet wurden, aber im Kampf der Parteien um den besten Platz an der Sonne schon damals nicht idie Linksparteien aber auch nicht der Partito Popolare, die katholische Partei, sondern Mussolinis Fasci obeniaufschwammen?

Vor den letzten vorzeitigen Parla-mentswahlen am 25. Mai 1972 war in Italien vielfach die Rede von der Möglichkeit eines neuen Marsches auf Rom. Giorgio Almirantes Sozialbewegung (= Deckname für die Neo-iaschistische Partei) hatte in den ersten Regional wählen am 7. Juni 1970 gut und in 'den folgenden Umengängen auf Gemeinde-, Provinz- und Regionalebene noch besser abgeschnitten. Da und dort ging das Gespenst von Staatsstreichversuchen der Rechtsextremen um.

Nun wollte der Generalsekretär der DC, Fanfani, die Kommunisten damals auf die Stufe der Neofaschi-sten stellen und vertrat die Theorie, daß zwischen Rechts- und Linksextremen kein Unterschied bestehe und beide gleicherweise bekämpft und ausgeschaltet werden sollten.

Im Laufe der letzten Jahre wurde aber unter kommunistischer Einwirkung die Theorie der ebenbürtigen Extreme mehr und' mehr diskreditiert. Ihrem hartnäckigen Vertreter Fanfani wurde Zug um Zug der politische Baden entzogen. Selbst viele Christüchdemokraten haben ihm nicht verziehen, daß er es am 12. Mai 1974 zum Referendum über die Beseitigung des 1970 eingeführten Scheidungsgesetzes kommen ließ, wodurch er der Democrazia Cristiana die erste große Niederlage bescherte. Als die Kommunisten in den Regional-, Provinz- und Ge-meindawahlen vom 15./16. Juni 1975 einen Stimmengewinn von durchschnittlich vier bis fünf Prozent erzielten, schickte der erweiterte Parteiausschluß der Democrazia Cristiana Fanfani in -die Wüste und bestellte an seiner Stelle Benigno Zaccagnini, Kinderarzt und ehemaligen Partisanenführer, ein politisch unbeschriebenes Blatt, das den Kommunisten weit besser in den Kram paßte als der Kalte Krieger Fanfani.

Die KPI kann heute glaubwürdig darlegen, was früher nur Behauptung und eigenes Wunschdenken war: daß sich Italien ohne Zustimmung oder wenigstens wohlwollendes Abseitsistehen nicht mehr regieren läßt. Seit drei Jahren passiert ohne oder gar gegen den Willen der kommunistischen Abgeordneten und Senatoren kein Gesetz von Bedeutung die parlamentarischen Hürden. Die „Bündnispartner“ des linken Zentrums sind nachgerade derart zerstritten, daß die Kommunisten immer wieder in der Wirtschaftspolitik, aber auch in konfessionell engagierten Fragen (wie der Beibehaltung oder Abschaffung der Ehescheidung oder der Legalisierung des Sehwangerschaftsabbruchs) als Schiedsricht-eir oder Vermittler auftreten konnten. Dabei stand die KPI wiederholt mehr auf Seiten der isolierten Democrazia Cristiana als der immer aufsässiger werdenden sogenannten Laienparteien, also der kirchlich nicht gebundenen Linksso-zialisten, Sozialdemokraten, Republikaner, Radikalen und Liberalen. Berlinguer tat es freilich nicht aus Vorliebe für die DC, sondern mit dem Seitenblick auf den „Historischen Kompromiß“.

Bei diesem „Kniefail vor dem Vatikan“ verfolgt Enrico Berlinguer nunmehr eine Politik, die Antonio Grarnsci, der erste Generalsekretär der KPI, bereits in , den zwanziger Jahren empfohlen und sein Nachfolger Pakniro Togliatti mit gewichtigen Zugeständnissen fortgesetzt hatte. Der kommunistischen Unterstützung ist es nämlich zuzuschreiben, daß die 1929 zwischen Pius XI. und Mussolini unterzeichneten Konkordatsverträge in die erste republikanische Verfassung des Jahres 1974 aufgenommen wurden.

Berlinguers „historischer Kompromiß“ ist also nichts anderes als der neue Begriff für eine alte Sache, nämlich den. bereits von Togliatti empfohlenen Dialog zwischen Marxisten und Katholiken, ein Gespräch, das während des Pontifikates Johannes XXIII. eifrig gepflegt wurde und das die Ostpolitik des Vatikans zumindest einleitete, bei der es allerdings weniger um das von „Kalten Kriegern“ befürchtete Appease-ment gegenüber der Sowjetunion als um das Los der vielen Millionen Katholiken hinter dem Eisernen Vorhang ging.

Nicht immer und in allen Belangen verfolgten die Kommunisten eine solche „Politik des Wohl-verbaltens“. Gemessen an der ganzen Nachkriegszeit ist sie sogar jüngeren Datums. Lange Jahre, zwischen 1948 und 1970, betrieb die KPI nämlich ansonsten eher die Politik des „Je schlechter desto besser“: Derart fischten die Kommunisten, wo sie konnten, im trüben. Mißwirtschaft, Korruption Machtmißbrauch, Nepotismus und tausend andere Mißstände der vornehmlich christlich-demokratischen Regierungen erleichterten ihnen dabei die Arbeit. Und ein Wirtschaftswunder, das der KPI hätte den Wind aus den Segeln nehmen können, wenn es ein miracolo economic in allen Landesteilen und für alle Schichten gewesen wäre, gab es nicht. Ja, es bot mehr Anlaß zu Neid und Argwohn; und daß der arme Italiener weniger arm als früher war, fiel weniger ins Gewicht als die Tatsache, daß sich der reiche Italiener am Wirtschaftswunder besonders bereicherte. Mit einem Wort: die Situation vor diesen Sehicksalswahlen kommt nicht von ungefähr.

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