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Kein museales Musenblatt

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Selten, sehr selten kommt es vor, daß eine Zeitschrift den Zeitläufen standhält und Jahrzehnte überdauert. Das „Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins“ ist eine solche Ausnahmeerscheinung: Österreichs älteste literaturwissenschaftliche Zeitschrift feiert ihren hundertsten Geburtstag.

Als sich der honorige Wiener Goethe-Verein 1886 zur Herausgabe eines Periodikums entschloß, dachte er nicht nur an Vereinsnachrichten, Referate über Neuerscheinungen der Goethe-Literatur und „Goethe-Notizen aller Art“. Die „Chronik des Wiener Goethe-Vereins“ sollte auch „Berichte über Goethe-Denkmal-Angelegenheiten“ enthalten. Dieser Punkt des Gründungsstatuts war besonders wichtig, entsprach er doch dem dringlichsten Anliegen des Vereins. Nachdem Schiller 1876 ein Monument in Wien erhalten hatte, wollten die Goetheaner der Kaiserstadt ihrem Idol die gleiche Ehrung erkämpfen. „Das nächste Denkmal muß ein Goethe-Denkmal sein“, lautete die Devise imneugeschaffenen Goethe-Verein, und die „Chronik“ druckte Beiträge wie die „Phantasien eines Laien über Denkmäler überhaupt und über das Goethe-Denkmal im besonderen“.

Die rege Auseinandersetzung über mögliche Standorte eines Goethe-Monuments war gleichzeitig eine Standortbestimmung der Wiener Goethe-Rezeption. Man wollte Schiller keineswegs zu nahe treten, doch man fand, daß „eine Verehrung Schillers in bedenklichstem Licht erschiene, wenn eine Würdigung Goethes hinter ihr zurückbliebe“. Nicht zuletzt sollte das öffentliche Bekenntnis zu Goethe auch ein Stück nationaler Identität bezeugen: „Goethes weithin sichtbare, hochragende Gestalt ist uns gleichsam ein Symbol deutscher Bildung, die uns Deutschen in Österreich unsere Bedeutung gibt für unser österreichisches Gesamtvaterland; sie ist ja doch die einzige Culturquelle für uns, ein Hochstrahlbrunnen, aus dem alle Völker des Reichs Belehrung und Erquickung schöpfen.“

Im Dezember 1900 war es soweit. Seine Majestät höchstselbst sprach die Worte „Es falle die Hülle von dem Denkmale“, und Wien hatte sein Goethe-Monument. In den Sockel, auf dem die Goethe-Statue des Wiener Büd-hauers Edmund Hellmer Platz nahm, hatte man die bislang erschienenen Jahrgänge der „Chronik“ eingemauert — zum Zeugnis für die „zwanzigjährigen Bemühungen, die durch die glückliche Vollendung des heute beschlossenen Werkes gekrönt werden“.

Der Goethe-Verein hatte seine dringendste Aufgabe erfüllt, aber nicht den Schlußstein seiner Tätigkeit gesetzt. Die Frage „Was nun?“ beantwortete die Chronik mit einem eindringlichen Appell: „Jetzt, wo der Alte von Weimar leibhaftig in unserer Mitte weilt, ergeht an uns doppelt und dreifach die ernste Mahnung, sein Andenken nicht bloß in Erz und Stein, sondern auch in unserem

Herzen und in unserem Geiste zu bewahren und zu pflegen.“

Die Grundlage für eine hochqualifizierte geistige Auseinandersetzung mit dem Werk Goethes war schon seit Jahren vorhanden. Lange bevor der große Weimaraner — monumental verewigt — in Wien Einzug hielt, hatten die Wiener in Weimar Fuß gefaßt. Universitätsprofessor Erich Schmidt war 1885 zum Leiter des neugegründeten Weimarer Goethe-Archivs bestellt worden. Seitdem verfügte der Wiener Goethe-Verein über Informationen aus erster Hand. Schmidt berichtete in der „Chronik“ über neue Funde und Erkenntnisse aus der Arbeit am Goethe-Nachlaß. Die Verbindung zu Weimar ist bis heute lebendig: Der Präsident des Wiener Goethe-Vereins gehört traditionell dem Vorstand der Weimarer Goethe-Gesellschaft an.

Tradition und Kontinuität kennzeichnen auch das „Jahrbuch“, das die „Chronik des Wiener Goethe-Vereins“ fortsetzt. Eine Zeitschrift müsse, so meinte Goethe, „die Art und Weise des Orts, woher sie stamme, genugsam andeuten, wie der Ring auf der Fläche des Wassers die unten verborgene Quelle verrate und, sie rund umschließend, den Bereich ihrer Wirkung kenntlich mache“. In diesem Sinne ist das „Jahrbuch“ eine Zeitschrift im Geist Goethes geblieben. Das Werk und das Wirken Goethes stehen nach wie vor im Mittelpunkt des Interesses, doch wird Goethes Universalität als Aufforderung zur Offenheit verstanden. Die Verbindung zwischen den Künsten, fachübergreifende kulturhistorische Zusammenhänge und der enge Kontakt zur Gegenwartsliteratur sind Aspekte, denen der Herausgeber des „Jahrbuchs“, Herbert Zeman, besondere Aufmerksamkeit schenkt. Die österreichische Literatur bildet einen weiteren Schwerpunkt der wissenschaftlichen Diskussion.

Das „Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins“ profiliert sich so als eine Zeitschrift, welche „die Art und Weise des Orts, woher sie stammt“, sehr wohl anzudeuten vermag. Als internationales Fachblatt mit österreichischer Prägung tritt das „Jahrbuch“ in sein zweites Jahrhundert.

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