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„Kein nationales Prestige“

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Der Beschluß des Althings, die Fischereigrenze auf 50 Seemeilen zu erweitern — also ungefähr bis zum Abschluß des isländischen Kontinentalsockels — ist bisher in der Welt auf wenig Verständnis gestoßen. Hat sich der sonst so friedliche Staat auf ein imperialistisches Abenteuer eingelassen, das bei anderen Küstenstaaten Schule machen könnte? Soll die Freiheit des Meeres eingeengt werden? Nur mangelnde Kenntnis der besonderen Verhältnisse Islands erlaubt eine solche Annahme.

Seit Jahrhunderten lebt das isländische Volk vom Fisch: Der Fischfang macht heute 81,9 Prozent des Nationalproduktes und über 95 Prozent des Exports aus. Es zeichnet sich keine Möglichkeit ab, diese Erwerbsquelle durch eine andere wesentlich zu ergänzen, geschweige denn zu ersetzen. Will sich Island als selbständige Nation behaupten, so muß es seinen Fisch schützen.

So lange mit Angel und Maschengarn gefischt wurde, hat die Frage der Fischereigrenzen eine geringe Rolle gespielt. Seitdem aber Trawler riesige Netze mit großer Geschwindigkeit über den Meeresboden führen und alles mit sich raffen — Fische, Fischbrut und Tang —, sinkt der Fischbestand bedrohlich ab. Ungefähr ein Fünftel des Fanges besteht aus kleinen Fischen, die durch den Druck getötet werden und über Bord geworfen werden müssen. Die großen modernen Trawler sind schwimmende Fabriken, die alles, was sie durch kräftige Saugmotoren aus dem Meer herausholen, zu Mehl oder öl verarbeiten. Der Kontinentalsockel Islands, einer der größten Brutplätze der Welt für Kabeljau und andere Fischarten, steht vor der Vernichtung als Fischgrund.

Schon in der Periode zwischen den beiden Weltkriegen war die verbesserte technische Ausrüstung der Fangschiffe von einem alarmierenden Rückgang des Fanges begleitet: Der durchschnittliche tägliche Fang von Schellfisch fiel von 1919 bis 1937 von 21 Tonnen auf 5; im gleichen Zeitraum fiel die Menge des Fanges in 100 Trawlerstunden von 273 Tonnen auf 71 Tonnen Fisch.

Während des zweiten Weltkriegs hatten die Fische in den isländischen Gewässern Ruhe und Vermehrten sich zufriedenstellend. Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs hat sich jedoch die Situation zur Katastrophe entwik-kelt. Mit elektronischen Geräten ausgerüstete Fischereiflotten

Englands, Polens, Deutschlands, Japans und der Sowjetunion durchpflügen die Meere und rotten die Fische aus. „Boote“ in der Größe von 4000 bis 5000 Tonnen sind keine Seltenheit mehr. Die rücksichtslose Ausbeutung des Meeres hat dazu geführt, daß der Thunfisch aus der Nordsee verschwunden ist und die Flunder aus den Gewässern um Alaska; der Schellfisch, vor zehn Jahren noch ein Volksnahrungsmittel, ist nahezu eine Seltenheit geworden.

Das sind keine lichten Aussichten für ein Land, das vom Fisch lebt und dessen Bevölkerung sich ständig vermehrt. Man kann dem isländischen Volk einfach nicht zumuten, dieser Entwicklung mit verschränkten Armen weiter zuzuschauen; während die Fischerei für Deutschland und England nur je ungefähr 2 Promille ausmacht, ist sie für Island das Einkommen.

An der Erhaltung des Fisches sollte aber nicht nur Island interessiert sein. Leider ist die Kenntnis von den Lebensbedingungen im Meer nicht sehr verbreitet; bisher hat nur die Frage der Verschmutzung größeres Interesse gefunden. Durch die modernen Fangmethoden wird so entscheidend in den biologischen Prozeß eingegriffen, daß das Leben im Meer bereits gefährdet ist. Der Fisch ist aber heute in vielen Ländern ein Grundnahrungsmittel — so geht ein Großteil des isländischen Stockfisches nach Westafrika. Das Meer sollte auch die Reserve der Ernährung für kommende Generationen sein; sie werden uns wenig Dank dafür wissen, wenn wir der Gefährdung des Lebens im Meer so gleichgültig gegenüberstehen.

Island kann die Erweiterung der Fischereigrenze nicht mit Macht durchsetzen, wohl aber durch Aufrüttelung der öffentlichen Meinung der Welt. Für Island ist sie keine Frage des nationalen Prestiges, sondern des Überlebens — und diese Bedeutung hat sie schließlich und endlich auch für die übrige Menschheit.

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