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„Kein Rangierbahnhof des Konservativismus"

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FURCHE: Herr Professor, Sie haben vor kurzem das 80. Lebensjahr vollendet. Sie haben, eingerechnet die Zeit Ihres Studiums der Sozialwissenschaften, 50 Jahre im Dienste der christlichen Sozialreform gestanden. Wenn Sie die Spannungen, Konflikte und Gewalttätigkeiten in der heutigen Gesellschaft beobachten, überkommt Sie dann nicht das Gefühl der Vergeblichkeit Ihrer Lebensarbeit?

MESSNER: Kein Zweifel, die Situation ist besorgniserregend, die Weltlage im ganzen ist voll des Unheimlichen. Ein Blick auf die vergangenen 50 Jahre wirkt aber eher ermutigend. Man vergegenwärtige sich die bis zum Zweiten Weltkrieg beherrschende Stellung so gewaltiger ideologischer Mächte wie des individualistischen Liberalismus und des kollektivistischen Sozialismus mit all den spannungsgeladenen Konflikten. Der heutige Liberalismus wie der Sozialismus haben sich inzwischen der christlichen Sozialidee so sehr genähert, daß sie beide um den Nachweis bemüht sind, mit ihr in den praktischen Zielsetzungen vereinbar zu sein. Sicher geht diese Konvergenz nicht nur auf die Arbeit der christlichen Sozialreform zurück, sie zeigt aber jedenfalls, daß von der christlichen Gesellschaftslehre weiterhin Orientierungshilfen im Ringen um eine gesellschaftliche Ordnung in Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit und allseitiger Achtung der Menschenwürde erwartet werden können.

FURCHE: Sie haben die christliche Gesellschaftslehre erwähnt. Ist nicht heute die Möglichkeit einer christlichen Gesellschaftslehre in Frage gestellt? Manche sagen, eine christliche Gesellschaftslehre müsse von den gleichen Grunddątęn ausgehen wie jede andere Sozialtheorie. Andere behaupten, die christliche Gesellschaft sichre sei auf eine Handvoll allgemeinster Grundsätze beschränkt, die, wenn nicht überhaupt Leerformeln, doch keine konkrete Ordnungsnormen bieten.

MESSNER: Fast alles Christliche ist heute in Frage gestellt. Warum sollte die christliche Gesellschaftslehre eine Ausnahme bilden? Jeder Gesellschaftslehre liegt eine Lehre vom Menschen zugrunde. Diese ist eine andere für den Marxismus der verschiedenen Schattierungen, eine andere für den nur diesseitig orientierten Liberalismus und Sozialismus, eine andere für das Christentum. Aus dem Menschenbild des Christentums ergeben sich für die christliche Gesellschaftslehre mehr als ein halbes Dutzend fester Basisdaten: die Gottesebenbildlichkeit, das Gewissen als sittliche und rechtliche Erkenntnisquelle, die auf beides begründete Personalität und Personwürde des Menschen, die Sozialnatur des Menschen mit dem verpflichtenden Gemeinwohl als Voraussetzung für die Vollentfaltung aller, die Beeinträchtigung der menschlichen Natur durch die Erbschuld, die Berufung zur Teilnahme am Schöpfungswerk Gottes durch Zeugung und durch Kulturarbeit auf allen Gebieten, schließlich die endgültige Erfüllung des Lebenssinnes des Menschen im Jenseits. Keine andere Gesellschaftslehre hat so bestimmte Basisdaten wie die christliche. Wer aber behauptet, die christliche Gesellschaftslehre bestehe nur aus einer Handvoll allgemeinster Grundsätze, wenn nicht überhaupt aus Leerformeln, der hat noch nicht die Friedensenzykliks Johannes XXIII. zur Kenntnis genommen, mit ihrem ausgedehnten Katalog von ganz konkreten Naturrechtssätzen über die zwischenmenschlichen Beziehungen, über die innerstaatliche, zwischenstaatliche und internationale Friedensordnung Sie ist selbstverständlich kein Ende vielmehr stellen sich der christlicher Gesellschaftslehre neue Aufgaben ir großer Fülle. Einige wurden von Zweiten Vatikanischen Konzil angeführt.

FURCHE: Sie erwähnen das Zweiti Vatikanische Konzil. Die Kirche wire seit seiner Beendigung von einer Glaubenskrise geschüttelt. Sehen Sie das Fundament der Kirche bedroht? MESSNER: Die Kirche hat schon schwerere Krisen überstanden. Darauf einzugehen fehlt die Zeit. Nur einige Bemerkungen seien gestattet. Es fragt sich, wieweit überhaupt von einer Glaubenskrise gesprochen werden kann. Was die Kirche nicht zuletzt trägt und sich in

Krisenzeiten als entscheidend erweist, ist die im Volke lebende Glaubenssubstanz und ‘nicht die sich als theologische Wissenschaft gebende intellektualistische Brisanz. Was heute klarer wird, ist, daß der Glaube des Menschen auf einer Entscheidung beruht, gestützt auf für die Vernunft annehmbare Gründe. Hinsichtlich dieser Gründe gilt -noch immer genau das Wort von Pascal: „Es gibt genug Licht für die, die sehen wollen, und es gibt genug Dunkel für die, die nicht sehen wollen.“ Und hinsichtlich des Dunkels behält J. H. Newman noch immer recht: daß tausend Glaubensschwierigkeiten noch keinen Glaubenszweifel ausmachen für den, der die Glaubensentscheidung getroffen hat. Dazu: gäbe es nur lauter Licht und nicht auch das Dunkel, wäre Glaube und Glaubensentscheidung nicht möglich, sondern, wie schon Thomas von Aquin betonte, nur das sich dem Menschen aufnötigende Wissen. Im Glauben ist die Freiheit des Menschen beansprucht, der Glaube ist Entscheidung für Gott in Freiheit.

FURCHE: Sie haben von neuen Aufgaben der christlichen Gesell- schaftslehre gesprochen. Worin sehen sie die wichtigsten?

MESSNER: Das Zweite Vatikanische Konzil hat sie in einem Satz zusammengefaßt: „Es geht um die Rettung der menschlichen Person“, und zwar durch eine darauf abzielende Gesellschaftsordnung. Die Bedrohung der menschlichen Person durch Manipulierung des Menschen ist ja heute in aller Munde. Sie geschieht nicht nur durch Massenmedien, sondern auch durch Werbetechnik zur Programmierung der Wertvorstellungen der Wohlstandsgesellschaft, Schon mehren sich die Anzeichen der Lähmung des Verantwortungsbewußtseins und des kritischen Urteils der Massen, womit der Per- sönlichkeitskem des Menschen getroffen ist. Erinnert sei auch an die Herrschaft der Technik über der Menschen, die Gefährdung der Umweltvoraussetzungen seiner Existenz die Bedrohung der Menschheit durch den Rüstungswidersinn und nichl zuletzt die alle übrige Sozialproblematik überschattenden gigantischen und schicksalhaften Aufgaben der Entwicklungshilfe. Nich“ zu vergessen die von Molekular- unc Erbbiologen schon unternommener Versuche der Erbsteuerung mit dej Möglichkeit der Machbarkeit vor Menschentypen nach bestimmten gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen.

FURCHE: Sie haben unter den neuen Aufgaben der christlichen Gesellschaftslehre die Frage der Mitbestimmung nicht erwähnt. In den von Katholiken geleiteten sozialistischen „Frankfurter Heften“ wurden sie neulich als „leidenschaftlicher Gegner der Mitbestimmung“ bezeichnet.

MESSNER-: Die Mitverantwortung und Mitbestimmung, die den un selbständig Beschäftigten zum wirklichen Mitarbeiter macht, vertrat ich schon, als der Schreiber des Aufsatzes in den „Frankfurter Heften“ vielleicht noch in den Windeln lag, nämlich 1928, und seither ununterbrochen. Die Frage ist, welche Art

Ständig Beschäftigten wirklich die Persön Tagewerk ermöglicht oder, wenn sie wollen, ihm den Weg aus der „Entfremdung“ öffnet. Er muß im Vollsinn sich als Mitarbeiter wissen können. Darum trete ich für mehr Rechte des Arbeiters auf dem Arbeitsplatz ein, wo seine Erfahrung ihm ermöglicht, bei der zweckvolleren Gestaltung des Arbeitsprozesses mitzusprechen, außerdem viele Möglichkeiten der Teamarbeit bestehen, so daß Arbeitnehmer in engerer menschlicher und beruflicher Verbundenheit schöpferisch an der Erzielung höherer Produktivität ihrer Arbeit mit entsprechend höherem Einkommen mitwirken können. In der Geschäftsführung des Unternehmens durch andere vertreten zu sein, bedeutet für den Arbeitnehmer persönlich wenig, ganz abgesehen davon, daß Hemmnisse in der Unternehmensführung entstehen, die die Leistungsfähigkeit, die Erträge und schließlich das Beschäftigungspotential der Unternehmen gefährden müssen.

FURCHE: Der „Rheinische Merkur“ hat Sie in einem Geburtstagsartikel als konservativen Denker bezeichnet. Verstehen Sie selbst Ihre Lebensarbeit als die eines konservativen Denkers?

MESSNER: Die christliche Gesellschaftslehre muß, wenn sie sich selbst richtig versteht, immer progressiv sein. Denn nach ihrer Lehre vom Menschen, seiner Irrtums fähigkeit und seinen Leidenschaften, seinem Egoismus und seinem Machtwillen, ist das gesellschaftliche Ordnungsgefüge immer schwereren oder geringeren Fehlentwicklungen ausgesetzt, mit der Folge von Ungerechtigkeiten für einzelne Gruppen. Sich zu jeder Zeit und mit immer neuem Engagement den Forderungen der Gerechtigkeit zu stellen, macht das Eigentliche der christlichen Gesellschaftslehre und der christlichen Sozialreform aus. Infolgedessen muß sie progressiv sein. Ihr Ziel ist die allseitig verwirklichte Gerechtigkeit. Nichts anderes als das ist das Gemeinwohl. Den schwersten Verstoß gegen die Gerechtigkeit bildet heute die Inflation. In der freiheitlichen Demokratie besteht die Schwierigkeit, daß die Augenblicksinteressen der Wähler, Interessengruppen und Parteien entscheiden, während das Gemeinwohl und seine Zukunft durch einen Grundbestand fester staatlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Werte bedingt ist. Skeptisch ist die christliche Gesellschaftlehre gegen alle Utopien und Radikalismen von Gruppen, die glauben, man müsse erst alles krumm und klein schlagen, dann werde sich die bessere Gesellschaft von selbst ergeben. Nach der christlichen Gesellschaftslehre muß in immer neuen Anstrengungen die bessere Gesellschaftsordnung aus der bestehenden entwickelt werden. Der Progressis- mus der christlichen Gesellschaftslehre möchte nicht der des Schnellzuges sein, der mit erhöhter Geschwindigkeit auf falschem Geleise dahinrast und in der Katastrophe endet. Unvereinbar mit der christlichen Gesellschaftslehre ist ebenso das ständige Herumfahren auf dem Rangierbahnhof, nämlich, ein Kon-mal gewordenen Ordnungen, die wegen rteitomer in Entwicklung begriffenen Gesellschaft Ungerechtigkeiten mit sich bringen, festlegt. Vielmehr möchte die christliche Gesellschaftslehre und Sozialreform immer in guter Fahrt bleiben mit dem Ziele einer menschlicheren, gerechteren Gesellschaft, die über die materielle Wohlfahrtswelt hinaus eine tiefer beglückende Persönlichkeitserfüllung für alle ermöglicht.

FURCHE: Eine letzte Frage: Sie haben ein großes Werk über das Natur- recht geschrieben. Nach der großen Renaissance des Naturrechts nach dem Zweiten Weltkrieg ist es zu einer zunehmenden Skepsis gegenüber der Naturrechtsidee gekommen. Bereitet ihnen das Sorge?

MESSNER: Nicht wirklich. Denn mehr denn je ist, wenn auch für manche das Wort Natur recht als ein Tabu gilt, heute die Rede von der Würde der menschlichen Person, den Menschenrechten, von einer menschlicheren Welt. Das sind genau die Naturrechtsfragen. Das Naturrecht fragt nach dem Naturrichtigen, es geht dabei von der Tatsache aus, daß der Mensch seinem dauernden Interesse, seinem Glücksstreben, nicht mit beliebigen Wertzielen dienen kann, sondern daß ihm durch seine Natur Werte vorgegeben sind, die ihm den Weg zur vollmenschlichen Existenz in der Gesellschaft weisen, und daß ihn seine Natur gegen ihre Vergewaltigung durch gesellschaftliches Unrecht sich durchzusetzen drängt. Ein konkretes Bei spiel: Der am Naturrechtsdenken Orientierte wußte mit aller Bestimmtheit, daß das tausendjährige Reich wegen der Schändung der Menschenwürde nicht tausend Jahre dauern könne. Er weiß heute, daß es die Sorge der Gewalthaber in den totalitären Staaten ist, daß die menschliche Natur mit ihrem Wissen von den menschlichen Grundwerten, der Freiheit im besonderen, sich durchsetzen wird. Diese Staaten sind gezwungen, auf eine ständige Hebung des Bildungsniveaus hinzuarbeiten, um im wirtschaftlichen Fortschritt nicht allzuweit zurückzufallen. Damit wird sich das Bewußtsein von den natürlichen Freiheitsrechten des Menschen immer stärker artikulieren. Kraft der Veranlagung der menschlichen Natur hat sich die innergesellschaftliche Ordnungsdynamik bis in die jüngste Zeit auf die christliche Sozialidee zu entwickelt. Man darf hoffen, daß die weltpolitische Dynamik es auch tun werde. Den Naturwissenschaften und der Technik wird eine wesentliche Rolle zufallen. Die von ihnen geförderte Denkdisziplin wird sich über die ganze Welt hin den Weg bahnen. Zur Tragweite dieser Entwicklung äußert F. S. C. Northrop, Professor für Philosophie und Recht an der Yale-Universität, USA, einen Gedanken, der geradezu wie ein Fanfarenstoß klingt: Das Zusammentreffen dieses neuen Denkens mit den verschiedenen Kulturen der Menschheit sei das wichtigste Ereignis der Welt von heute und morgen; als Ergebnis sieht er ein sich ausbreitendes und vertiefendes Bewußtsein von den natürlichen Rechten und Freiheiten des Menschen voraus, also eine Entwicklung, die auf die Naturrechtsidee der christlichen Gesellschaftslehre zugeht. Wir alle,

die wir an der heutigen Welt, ihrer Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit leiden, sollten auf den Bundesgenossen, der die menschliche Natur ist, vertrauen und damit auf ihren Schöpfer, der durch sie der Geschichte die Richtung weist. Optimismus und Hoffnung finden darin ihre tiefere Begründung. Trotz der vielen Wirrnisse der Gegenwart widerspricht Kleinmut am meisten dem christlichen Imperativ zur Rettung der menschlichen Person durch eine meschlichere Gesellschafts- und Weltordnung.

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