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Kein roter Overkill

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An allen Ecken und Enden der Stadt fordern Transparente, Plakate und Wandzeitungen den jungen Sowjetbürger dazu auf, seiner patriotischen Pflicht gegenüber dem sozialistischen Vaterland nachzukommen und seinen Wehrdienst zu leisten. In Wort und Bild werden die Helden-haftigkeit und Unbesiegbarkeit der sowjetischen Armee gepriesen. Die Militärparaden am Jahrestag der Revolution sind Jahr für Jahr düster-dröhnende Machtdemonstrationen des Sowjetregimes. Auch in Literatur, Film und Fernsehen überwiegt die Kriegsthematik — das Material ist meist dem zweiten Weltkrieg entnommen — „zivile“ Themen bei weitem.

Die Russen sind von Natur aus ein sehr unkriegerisches Volk, das keinerlei Lust am Säbelrasseln empfindet (nur Randschichten wie etwa die ukrainischen Kosaken sind traditionell kriegerisch begabt!) und außerdem sind sie viel zu sehr mit der Riesenhaftigkeit ihres eigenen Landes beschäftigt, als daß imperialistische Ideen in den Volksmassen Fuß fassen könnten. Der Grund für die Paukenschläge der militaristischen Propaganda ist also gerade im tiefgehenden Pazifismus und im allgemeinen Desinteresse an militärischen Belangen zu suchen.

Das häufige Auftreten der Kriegsthematik in Literatur und Kunst hat hingegen 'ganz andere Ursachen. Der zweite Weltkrieg, oder, wie er auf russisch genannt wird, der „Zweite Große Vaterländische Krieg“ (der erste große vaterländische Krieg ist Napoleons Rußlandfeldzug), bedeutete für Rußland eine Bedrohung der Substanz und wurde mit echtem Einsatz des ganzen Volkes durchgekämpft. Er brachte sehr viel Leiden über weite Teile der Bevölkerung und. stellte die Menschen vor extreme Konfliktsituationen, deren Schärfe und psychologischer Druck lange nachwirkten, so daß selbst die Generation der heute Dreißigjährigen den Krieg als durchaus lebendige Vergangenheit empfindet. Für die Literatur aber sind Kriegsthemen außerdem ein Milieu, in dem gesellschaftliche und individuelle Konflikte zur Darstellung gebracht werden können, ohne bei den vielfältigen Tabus der gegenwärtigen politischen Situation anzuecken.

Die Volksmeinung zum Thema Landesverteidigung hat allerdings in der Sowjetunion, wie übrigens auch in anderen Ländern, herzlich wenig zu besagen. Doch für die sowjetische Führung stellt die Landesverteidigung ein zentrales Problem dar — seit der Revolution fühlt sich Sowjetrußland von kapitalistischer Einkreisung bedroht. Das Aufsteigen Rußlands zur atomaren Supermacht im Gefolge des zweiten Weltkriegs ließ diese oft unproportionierte Furcht etwas abschwellen. Das Abschwenken Chinas von der Moskauer Linie und die daraus entstehende ideologische Konfrontation gaben der sowjetischen Einkreisungsphobie jedoch neue Nahrung. Denn so irreal ein chinesischer Angriff auf die Sowjetunion wegen des niedrigen technischen Niveaus der chinesischen Armee such sein mag, so ist die russische Angst davor doch ein reales Faktum, das im Westen als solches behandelt werden muß. Im übrigen ist es ja auch verständlich, daß der Druck, den 700 Millionen Chinesen auf die leeren Weiten Sibiriens — wenn auch nur psychologisch — ausüben, bei den Moskauer Generälen Alpträume hervorruft.

Unter diesem Gesichtspunkt einer Verringerung der Einkreisungsgefahr im allgemeinen und entsprechend dem Wunsch nach Entspannung im Westen, damit dem chinesischen Problem mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden kann, sind die sowjetischen Abrüstungsvorschläge — im besonderen der Plan zur Einberufung einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz — zu beurteilen. Man kann annehmen, daß der Wunsch nach Abrüstung in Europa von den Sowjets ehrlich gemeint ist. Allerdings ist die Sowjetgeneralität mißtrauisch und übervorsichtig und wird sehr auf der Hut sein, um eine paritätische Abrüstung der NATO und des Warschauer Pakts zu erreichen. In Moskau werden nämlich die westlichen Abrüstungspläne äußerst hellhörig verfolgt, seit 1968 der NATO-Rat in Rejkjavik vorschlug, die Truppen des Warschauer Pakts zahlenmäßig stärker zu reduzieren als die Einheiten der westlichen Mi-litärallianz. Im Westen wird die zahlenmäßige Überlegenheit der Warschaupakttruppen und ihre überlegene konventionelle Bewaffnung, besonders an Panzern, betont. Außerdem argumentiert man im Westen mit dem „geographischen Faktor“, der Rußland begünstige, da es sehr schnell einen konventionellen Angriff auf Mitteleuropa starten könne. Laut russischer Auffassung ist die zahlenmäßige Überlegenheit des Ostens nur ein „spekulatives Argument“ (mangelnde Verläßlichkeit der Ostblocktruppen?), und der geographische Faktor spiele im Zeitalter hochentwickelter Transportmöglichkeiten nur eine sekundäre Rolle.

Es stimmt, so sagen hohe Sowjetmilitärs, daß die Sowjetarmee der geographischen Lage wegen schneller mobilisieren und mehr Divisionen nach Mitteleuropa verschieben könne. Das NATO-Kommando hingegen verfüge über große Transportkapazitäten und über ein Netz moderner Flugplätze, ein weitreichendes Kommunikationssystem, eine große Tansportflotte. Ein Nachteil für die Sowjetarmee seien die enorm langen Landesgrenzen, die große Kräfte, nicht nur im Westen und Süden, sondern heute auch im Fernen Osten, binden. Im Notfall müsse die sowjetische Armeeführung beträchtliche Kräfte aus dem Uralgebiet, ja sogar vom Baikalsee nach Westen verschieben und diese Entfernung entspräche der Distanz von New York bis zur atlantischen Küste. Heutzutage spielen nach russischer Auffassung Raketenstreitkräfte,

Luftwaffe und Kriegsmarine ja eine ebenso wichtige Rolle wie das Heer. Die Abrüstungsformel müsse alle diese Komponenten berücksichtigen: im Mittelpunkt der sowjetischen Argumentation steht daher das „globale Kräftegleichgewicht“.

Wenn von NATO-Seite immer wieder auf die zahlenmäßige Überlegenheit der Warschaupakttruppen und auf die größere Zahl einsafcz-fähiger Panzer hingewiesen wird, antworten die Sowjets mit dem Hinweis auf die 3401 amerikanischen Militärbasen in aller Welt (außerhalb der USA!) und auf die Flugzeugträger, von denen jeder 70 bis 100 Flugzeuge unter Deck hat. Die militärischen Strukturen weisen nach sowjetischer Meinung eine Komplexität auf, die von sehr vielen Komponenten determiniert werde. Und es fehlen die objektiven Koeffizienten, die man zur Aufstellung einer Generalbilanz aller Waffengattungen benötige. Lange Verhandlungen und der aufrichtige Wille seien nötig, um eine „gerechte Abrüstung“ zu erreichen. Um solche Koeffizienten zu erarbeiten, schlagen die Sowjets daher die Errichtung von „Spezialagenturen“ bei der kommenden gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz vor. Angesichts der Nuklearwaffen wollen sie die Bedeutung der konventionellen Waffengattungen bei den kommenden Verhandlungen in Abrede stellen.

Eine „gerechte Abrüstung“, so die sowjetische Sprachregelung, könne nur auf einer „realistischen Basis“ erfolgen und diese sei die „gleichmäßige Reduktion der Streitkräfte“. Verhandlungen über eine asymmetrische Abrüstung werden von den Sowjets sicherlich energisch abgelehnt. Jedenfalls ist die Bereitschaft zu einer begrenzten und natürlich paritätischen Abrüstung in Moskau sehr groß und die Chance sollte im Westen genutzt werden. Eine Entspannung kann sich für die Menschen sowohl diesseits wie auch jenseits des Eisernen Vorhangs nur positiv auswirken, da sie Kapazitäten freisetzt, die zur Lösung sinnvollerer Probleme als zur Vermehrung des Overkills verwendet werden können.

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