6838490-1975_29_05.jpg
Digital In Arbeit

Kein Schlaraffenland

Werbung
Werbung
Werbung

Seit rund fünfundzwanzig Jahren funktioniert die wirtschaftliche Entwicklung in der westlichen Hemisphäre, von verhältnismäßig geringen Konjunkturtiefs abgesehen, ohne nennenswerte Reibungsverluste. In dieser langen Periode wurden nur in wenigen Staaten Wachstumsverluste verzeichnet und kein konjunkturelles Wellentief währte wesentlich länger als achtzehn Monate.

Das Erstmalige an der derzeitigen wirtschaftlichen Situation des Westens besteht darin: schon mehrere Quartale hindurch verzeichnen einzelne Volkswirtschaften (USA, Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien usw.) erhebliche Wachstumsverluste, die nicht im konjunkturellen auf und ab, sondern in strukturellen Ursachen begründet liegen. Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs dauern Rezessionen nun bereits zwei Jahre und — ebenfalls erstmals — sprechen die ökonomischen Daten für keine Tendenzwende. Mehr denn je erinnert die Konjunkturforschung heute an die Meteorologie, wo man nach dem achten Regentag zu verkünden beginnt, daß es bald schönes Wetter geben werde. Denn das Gesetz der Wahrscheinlichkeit spricht für die Richtigkeit dieser Behauptung.

Längst begann deshalb die Konjunkturforschung sich auf neue Deutungen einzurichten. Nun hält man nach einem Viertel Jahrhundert starken wirtschaftlichen Wachstums die Möglichkeit eines sogenannten Kondratieff-Zyklus für wahrscheinlich. Kondratieff war ein sowjetrussischer Ökonom, der, bis auf das Jahr 1797 zurückgehend, nachweisen konnte, daß alle fünfzig Jahre die Weltwirtschaft von einer großen und einschneidenden Krise geschüttelt wird. Wirtschaftswissenschaftler mit

Sinn für historische Zusammenhänge erkennen schon Parallelen der derzeitigen wirtschaftlichen Situation mit der wirtschaftlichen Lage in der Zeit von 1873 bis 1880. Heute erinnern an diese Krisenzeit die Rotunde, das Riesenrad und das Uraufführungsdatum der „Fledermaus“.

In den Vereinigten Staaten dauert die rezessive Phase nun schon dreißig Monate, in der Bundesrepublik Deutschland wurden die ersten deutlich spürbaren Anzeichen einer rückläufigen wirtschaftlichen Entwicklung im Frühjahr 1974 wahrgenommen. Mit der berühmten halbjährigen Verspätung bemerkten die Konjunkturforscher in Österreich im letzten Jahresviertel 1974, daß alle Auftriebskräfte erlahmt waren. In den ersten beiden Quartalen 1975 wurden sodann stark rückläufige Ergebnisse aus der Industriegüterproduktion gemeldet. Auch der von einer Milderung der Einkommensteuerprogression stimulierte Konsum hatte nicht die nötige Kraft, die Investitionsneigung der privaten und verstaatlichten Wirtschaft zu beflügeln. Dagegen verzeichneten die Banken und Sparkassen Rekordzuwächse bei den Spareinlagen.

Optimisten wollen glauben machen, daß im Herbst des laufenden Jahres die dann in Österreich seit einem Jahr lahmgelegten wirtschaftlichen Kräfte wieder beschwingt würden. Zu diesen Optimisten zählen vor allem die Politiker, deren Wahlerfolg von einem besseren wirtschaftlichen Wetter abhängig ist: Bundeskanzler Kreisky, Finanzminister Andiosch... Realisten rechnen, daß sich eine Tendenzwende frühestens Mitte 1976, wahrscheinlich aber erst gegen Ende des kommenden Jahres andeuten werde. Das würde bedeuten, daß die gegenwärtige Rezessionsphase etwas länger als zwei Jahre gedauert hätte. 1967/68, im Jahr der letzten Rezession, wurde nur für etwa neun Monate eine Wirtschaftsstagnation festgestellt. Zu den Realisten, die den Aufschwung in das letzte Viertel des Jahres 1976 verlegen, zählt beispielsweise ÖGB-Präsi-dent Benya, aber auch Nationalbank-Generaldirektor Kienzl.

Eine Gruppe von Ökonomen glaubt, daß sich auch im kommenden Jahr nichts ereignen werde, was einen wirtschaftlichen Aufschwung auslösen könnte. Vertreter dieser Gruppe rechnen in diesem Jahr mit einem Null-Wachstum, im kommenden Jahr mit deutlichen Wachstumsverlusten (bis zu zwei Prozent) und erst für Ende 1977 mit einer langsamen Erholung der wirtschaftlichen Auftriebskräfte. Je rhel k- aus der Sicht der Konjunkturforscher die Konturen der wirtschaftlichen Entwicklung verschwinden, desto größer wird unter den Empirikern die Gruppe derer, die an ein langes Warten auf den Aufschwung glauben.

Unter der Annahme eines wirtschaftlichen Aufschwungs in den Vereinigten Staaten schon im Herbst 1975 — und einige Anzeichen deuten darauf hin —, würde sich die österreichische Wirtschaft tatsächlich in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres langsam zu erholen beginnen — und zwar nicht aus eigener Kraft, sondern im Sog der ökonomischen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Dort rechnet man für das laufende Jahr mit einem Schrumpfen des Sozialprodukts von ein bis zwei Prozent bei einer Infla-tionsrate von etwa sechs Prozent.

Sollte in Österreich die Mehrwertsteuer per 1. Jänner 1976 nicht tatsächlich erhöht werden, wie das Finanzminister Androsch zu tun beabsichtigt, dann ist in den nächsten beiden Jahren mit einem starken Rückgang der Inflationsrate zu rechnen. Dabei wäre bereits im nächsten Jahr mit einer Inflationsrate von nur mehr fünf bis sechs Prozent zu rechnen und 1977 eine Inflationsrate zu erwarten, die sogar unter vier Prozent liegt. Wahrscheinlich würden in einer solchen Situation nicht nur die Kreditzinsen, sondern auch die Spar-einlagenztasen nach unten in Bewegung geraten müssen.

Die Unübersichtlichkeit der gegenwärtigen internationalen und nationalen Wirtschaftslage gibt Raum für viele und auch gewagte Prognosen. Am realistischsten ist die Vermutung, daß nach einem Nullwachstum in diesem Jahr und Sozialproduktsverlusten im nächsten Jahr die österreichische Wirtschaft erst 1977 einem Aufschwung entgegensteuern wird. Bis dahin heißt es, sich darauf zu besinnen, daß wir eben in keinem Schlaraffenland leben; nicht heute und auch nicht morgen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung