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Kein Trend, doch viele gute Bücher

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Bilanz der Frankfurter Buchmesse: Um das Buch muß man sich keine Sorgen machen, sehr wohl aber um die vielen Menschen, die den Zugang zum Buch noch nicht gefunden haben.

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Bilanz der Frankfurter Buchmesse: Um das Buch muß man sich keine Sorgen machen, sehr wohl aber um die vielen Menschen, die den Zugang zum Buch noch nicht gefunden haben.

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Jahr für Jahr jagen die anläßlich der Frankfurter Buchmesse in die Medien gelangenden Zahlen feinsinnigen Menschen einen Schauer über den Rücken: Wer soll die vielen Bücher lesen?

Tatsächlich, wer ohne Beratung durch Buchhändler, Kritiker und so weiter sein Lesefutter im Alleingang aus der Fülle der deutschsprachigen Neuerscheinungen auswählen wollte, müßte sich Tag für Tag, siebenmal pro Woche, mit jeweils 20 bis 25 Romanen, Lyrikbänden, Erzählungssammlungen und so weiter beschäftigen.

Nicht gerechnet die* Sachbücher, die Bildbände, die Kinder-und Jugendbücher und so weiter, nicht einmal die Neuauflagen klassischer oder anderer schon einmal gedruckter Literatur, von Goethe bis Günter Grass. Neue belletristische Werke stellten nur gut 12 Prozent der allein in der Bundesrepublik Deutschland 1984 erschienenen 51.733 Bücher, von denen gut 23 Prozent schon einmal gedruckt worden waren.

Unsere Gesellschaft hat einen enormen Bedarf an menschlichem Hirn-Output, wenn man all das Geschriebene einmal salopp so nennen darf. Denn der größte Teil des Gedruckten wird ja auch verkauft, und sei es zu stark herabgesetzten Preisen.

Man könnte nun freilich fragen: Wieviel Prozent der gekauften Bücher werden denn auch wirklich - gelesen? Eine regelmäßig unter den über sechzehnjährigen Deutschen durchgeführte Befragung ergab: Der Anteil derer, die in den letzten zwölf Monaten ein Buch gekauft hatten, stieg von 1968 bis 1984 kontinuierlich von 47 auf 63 Prozent, der jener, die eines gelesen hatten, pendelte sich im Zickzackkurs mit langsam steigender Tendenz bei 70 Prozent ein.

Wie 1968 griffen im vergangenen Jahr 48 Prozent der über sechzehnjährigen Deutschen mehrmals pro Woche bis einmal pro Monat zum Buch. Dafür stieg der Anteil derer, die dies täglich tun, von 10 auf 13 Prozent.

Es können sich also, wohl vor allem dank billiger Taschenbücher und Paperbacks, viel mehr Menschen den Kauf eines Buches leisten, während sich das Lese-verhalten langsamer, aber ebenfalls im positiven Sinne ändert. Die Fortschrittsoptimisten wurden in diesen 16 Jahren ja auch geduldiger. Und gerade langsam verlaufende Entwicklungen lassen hoffen, daß sie anhalten.

Skeptiker mögen einwenden, daß ein Teil der Befragten heute vielleicht den Interviewern prestigebetonter, sprich: weniger ehrlich antwortet. Auch dann bleibt ein Imagegewinn des Lesens, mit Rückwirkung auf das Leseverhalten.

Der Buchhandel spürt ja auch deutlich, daß die Leute lesefreudiger werden. Die Buchhändler klagen zwar gern und leiden auch unter steigenden Kosten und sinkendem Ertrag. Dafür können sich die Umsatzsteigerungen der Buchhändler im Vergleich mit anderen Sparten des Einzelhandels sehen lassen. Als einzige von neun hatten sie seit 1980 Jahr für Jahr Zuwächse, während alle anderen auch Einbußen hinzunehmen hatten, per saldo sind sie im Einzelhandel die Wachstums-Spitzenreiter schlechthin.

Man darf annehmen, daß diese Zahlen auch für Österreich gelten. Nur gibt's leider hierzulande keine so umfassenden Statistiken wie in der Bundesrepublik, wo jedem zur Buchmesse angereisten Journalisten Jahr für Jahr ein Paperback „Buch und Buchhandel in Zahlen“ in die Hand gedrückt wird.

Es ist keineswegs Ausdruck einer Krise, daß 1984 in Deutschland um 15 Prozent weniger neue Titel auf den Markt kamen. Es waren noch immer um 3.000 mehr als 1977, und damals wurde bereits seit Jahren über die Notwendigkeit geredet, weniger Bücher zu machen. Daß es ernstzunehmende Autoren heute schwerer haben als in den Jahren der Titelflut, ist eine betrübliche Sache, aber einen großen Teil dessen, was im vergangenen Jahr ungedruckt blieb, vermißt niemand.

Unsere Gesellschaft wird vielleicht nicht nur lesefreudiger, sondern auch kritischer bei der Auswahl dessen, was sie liest.

Den großen Roman, den bedeutenden Nachwuchsdichter, das Werk, das Menschen ihre Existenz erhellt, das Kultbuch... derlei läßt sich ohnehin nicht planen.

Hier können nur einige Eindrücke wiedergegeben werden, ohne Vorgriff auf spätere Rezensionen. Die ganze Bandbreite heutiger Erzähltechnik hat Platz etwa zwischen dem autobiographischen Roman des sowjetischen Regimekritikers Andrej Sinjaw-skij, diesem Bericht aus einem Totennaus, in dem doch Dostojew-skijs Atem nachweht (bei S. Fischer) und dem neuen Roman des Österreichers Gernot Wolfgruber („Die Nähe der Sonne“, Residenz Verlag), der die so förderliche (übrigens gute und verstehende) Besprechung in der Buchmessen-Beilage einer der angesehenen überregionalen Zeitungen fand.

Beispiel für thematische Marktnischen, die „reicheren Ortes“ oft unbemerkt bleiben und die im konkreten Fall vom Wiener Böhlau-Verlag besetzt wurde, ist dessen „Edition Passagen“, die mit den neuen und neuesten Strömungen der französischen Philosophie bekanntmacht. (Höchste Zeit, daß das einer tut.)

Beispiel für das Interesse, das für Einzelaspekte spezialisierter Themen vorhanden ist: Der Kla-genfurter Ritter-Verlag hat in der Bundesrepublik (!) Erfolg mit einem wieder aufgelegten Buch („Acht Jahre Secession“) jenes Ludwig Hevesy, der uns heute fast nur noch in den Fußnoten von Werken über Architektur und Kunst um 1900 begegnet.

Das Gesellschaftsspiel,

„Trends“ zu entdecken, funktioniert heuer weniger denn je. Es sei denn, man registriert, statt Markt- und Markenpolitik, den Ausdruck unserer Zeit in ihren Büchern: Nach wie vor eine Tendenz zur Zuflucht beim Schönen ... Aufwertung des Privaten ... Interesse für alles Bedrohte, das nicht untergehen soll... Sorge um eine Welt, deren Zustand nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet ist, daß im Jahr 1983 volle 30 Prozent aller Deutschen kein Buch gelesen haben.

Sie bleiben vor einer Tür, hinter der keine Rede von Gleichmacherei ist, in der Vielfalt herrscht, Individualismus und Reichtum an Individualitäten.

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