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Kein Wunderland

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„Nicht überall ist Wunderland“, sagte Kurt Tucholsky und beklagte das, was Zyniker heute als .^menschlichen Müll“ abzutun pflegen: die Armut in der Wohlstandsgesellschaft. Rund 9 Prozent der österreichischen Bevölkerung, mithin etwa 680.000 Personen, gelten in statistischer Sicht als arm. Bemerkenswert ist, daß — als Ausdruck der sagenannten „versteckten“ und „verschämten“ Armut — nur 3 Prozent affler Österreicher sich selbst als arm bezeichnen, 20 Prozent dagegen behaupten, arme Leute zu kennen (Johannes Penzias: „Die Armen in Österreich werden nicht weniger“, in: österreichische Monatshefte Nr. 6/1976).

Diese Armen leben mitten unter uns. Allerdings,'Armut ist gar nicht mehr ausschließlich eine Sache des Hungers, und wer die Mutter einer siebenköpfigen Familie auf dem Supermarkt einkaufen sieht, der denkt auch gewiß nicht mehr an die biblischen Brosamen vom Tisch der Reichen Aber der Wohlstand ringsum hat auch dem Begriff „Armut“ einen anderen Sinngebalt gegeben. Der Arme von heute hungert nicht, er existiert unter jenem statistisch errechneten Minimum, das es ihm gerade noch erlaubt, seine Würde als Mensch au wahren. Damit ist nur die halbe Wahrheit gesagt, denn jene, deren Einkommen zeitweise oder dauernd nicht einmal die Höhe der amtlichen Fürsorgezuschüsse („Ausgleiehszulage“) erreichen, geraten automatisch in einen „Kreislauf der Armut“, der ihnen kaum eine Hoffnung auf Besserung läßt.

Die Frage nach der „Schuld“ an dieser tristen Situation ist, wenn überhaupt, sehr schwierig zu beantworten. Kann man einen Rentner, der früher, als im allgemeinen weniger verdient wurde, auch weniger „geklebt“ hat, schuldig sprechen? Trägt ein Greißler oder Schuh-machenmeister, der täglich oft zehn und mehr Stunden seinem mühsamen Broterwerb nachging, dennoch nie die geringste Chance hatte, Geld zur Seite zu legen und heute die Mindestrente bezieht, „Schuld“ an seiner ausweglosen Lage? Oder ein

Familienvater mit vier kleinen Kindern, der seine Arbeit aufgeben mußte, weil seine Frau monatelang im Krankenhaus lag — wäre er „schuldig“ zu sprechen? Unter ihnen sind mehr denn je Leute, die sich als „solide Menschen“ ansehen. Viele von ihnen kommen kaum auf ein monatliches Einkommen von knapp 3000 Schilling, nach offizieller Definition die Grenze, von der an für einen Zwei- oder Dreipersonenhaushalt die Armut aufhört. Doch gerade diese Bevölkerungsschicht steht dem Fürsorgesystem traditionell sehr ablehnend gegenüber.

In vielen Quartieren Wiens und der Landeshauptstädte kann man Glanz und Elend der Wirklichkeit des österreichischen Wohlfahrtsstaates durchmessen. In abbruchreifen Althäusern, eingebettet zwischen kommunalen Wohnsilos, den Keimzellen künftiger Armut, vegetieren kinderreiche Gastarbeiterfamilien, alte und einsame Frauen, bresthafte Greise — ohne jede Chance auf Teilnahme an den Genüssen des Wohlfahrtsstaates. Vor allem die älteren Menschen haben sich längst darauf eingerichtet, jene bleierne Passivität zu akzeptieren, zu der sie ein bleiern passives Wohlf abrts- und Fürsorgewesen verdammt hat.

Ein Großteil der Armen in Österreich, vor allem der Armen in den Urbanisationen, ist Opfer der rapiden Geldentwertung. Die Warnung, daß Sozialleistungen, die nicht real — also nur über die Geldillusion der Inflation — erfüllt werden können, vor allem den Rentenbeziehern schweren Schaden zufügen, ist bisher von kurzsichtigen Sozialpolitikern immer wieder als unangebrachter Kassandraruf abgetan worden.

Die Armut im Wohlfahrtsstaat trägt vielerlei Gesichter, nur selten aber tritt sie offen zutage. Primäre Armut, also Mangel an lebenswichtigen Gütern, ist zurückgetreten hinter den Erscheinungsformen der sogenannten sekundären und tertiären Armut. Die erstere hat die Lust am Erwerb von höherwertigen Gütern, die den sozialen Status aufrechterhalten oder doch noch irgendwie bestätigen, aufgegeben; die tertiäre

Armut dagegen äußert sich im Mangel an sozialer Integrationsfähigkeit. Zur Gruppe der tertiär Armen zählen die Outcasts der Gesellschaft: die Kranken, Behinderten, Ausgeflippten, Drogenabhängigen und ehemaligen Sträflinge. Sie sind die Stützpfeiler der weiter wachsenden Armut. Die Hälfte der Kinder, die im Milieu solcher Randgruppen groß werden, kommt in Sonderschulen; nicht, weil sie weniger begabt sind, sondern weil sie sich im Dunstkreis der Aus- und Abgeschiedenheit weniger entfalten können.

Die Armut im Wohlfahrtsstaat trägt einen multiddmensionalen Charakter. Davon gezeichnete Menschen und Gruppen entbehren nicht nur das tägliche Brot, sondern Kontakte zu jenen Menschen und Gruppen, die das gesellschaftsbestimmende und -bestimmte Leben leben. Sie sind isoliert, ihre „poverty line“ ist materiell bestimmt, aber sozial und kulturell derart intensiv getönt, daß selbst die Befreiung aus der materiellen Not später das soziokultu-relle Defizit nicht zu füllen imstande ist.

Die Bekämpfung der Armut in Österreich kann nicht mit den Instrumenten und Mitteln der quantitativen Sozialpolitik erfolgen. Denn eine Sozialpolitik, die glaubt, daß die Geldverteilung aus der Gießkanne das Los der schuldhaft und schuldlos Deklassierten in unserer Gesellschaft zu lindern oder gar zu beheben vermag, gibt sich der Selbsttäuschung hin. Krasses Elend wird dadurch „bestenfalls“ stabilisiert, tägliche Not, von der keine Statistik berichtet, sogar verklärt.

Geht man davon aus, daß sich Wirtschaft und Gesellschaft in den nächsten Jahren auf niedrigere Wachstumsraten einstellen müssen und ihr Füllhorn deshalb nicht verschwenderisch über alle ausbreiten können, dann darf man nicht zu optimistisch sein, was die Bekämpfung der Armut in Österreich betrifft. Im Zuge der Inflation und im Zuge der einseitigen Ausrichtung der Politik auf die Begünstigten der Verteilungsgesellschaft, ist die Armut, sind die Armen in diesem Land vergessen worden, hat die Armut ein Eigenleben entwickelt, das die Armen so gerne missen möchten — woran freilich die offizielle Sozialpolitik so viel Interesse vermissen läßt.

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