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Keine Berührungsangst

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Vor zwei Jahren hatten wir Schwierigkeiten mit unseren zweiten Jahrgängen. Aus Leistungsgründen waren bereits viele Schüler ausgetreten, die übrigen verweigerten gemeinsam die Leistungen unter dem Motto: „Die können ja nicht alle durchfallen lassen.“ Die Schüler waren „brav“, freundlich, angenehm, aber völlig gleichgültig gegenüber ihren dramatisch schlechten Noten. Viele eindringliche Hinweise auf die Mindestanforderungen der Berufsausbildung, auf

die Möglichkeit, Jahrgänge auch mit geringen Schülerzahlen zu führen, nützten nichts.

Wir Lehrer waren ratlos, hatten so etwas im mehr als zwanzigjährigen Bestehen der Lehranstalt nicht erlebt. Nach einigem Zögern entschlossen wir uns zu einem Schüler-Eltern-Lehrer-Abend, um die aufgetretenen Probleme einmal gemeinsam zu besprechen.

Wie sich im Rückblick herausstellte, waren Erwartungen und Ängste auf allen Seiten groß. Die Schüler erwarteten, aus ihrer Sicht bestehende Fehler und Ungerechtigkeiten ihrer Lehrer kritisch aufzuzeigen. Dabei hatten sie Angst, daß ihnen ein zu offenes Wort im Schulerfolg schaden würde, daß die Lehrer sich „rächen“ würden. Die Eltern wollten die Lehrer mit ihren Eigenheiten näher kennenlernen, besser über die Schule informiert sein,, JCoch-rezepte“ für den Lernerfolg erhalten und ihre „armen“ Kinder gegenüber der Schule „verteidi-gen .

Manche wollten auch die Unter-

Stützung der Lehrer, um ihre Kinder unter Druck zu setzen. Die Sorge aller Eltern aber war auch, daß zu viel Kritik ihren Kindern schlechte Noten brächte. Die Lehrer schließlich fürchteten, daß ihre Autorität in Frage gestellt würde, daß der Abend in eine „Lehrerbeschimpfung“ ausarten könnte. Manche von uns waren ziemlich nervös.

Der erste Abend kam auf uns zu. Etwa sechzig Personen, eine „Zweidrittelmehrheit“ von jeder Seite, waren gekommen. In meiner Einführung stellte sich die Aufgabe der österreichischen Schule gemäß Schulunterrichtsgesetz — Mithilfe an der Erziehung zum Guten, Wahren und Schönen — in den Vordergrund, die Forderungen der österreichischen Kunststoffwirtschaft an die Beruf seignung der jungen Ingenieure, die hervorragenden Berufschancen unserer Absolventen, und ging schließlich auf den gleichgültigen Widerstand der Schüler des eingeladenen Jahrganges ein. Wir Lehrer stellten unsere Ratlosigkeit dar.

Nach anfänglichem Zögern reagierten die Eltern mit Fragen nach Disziplin, später mit höflichen und verdeckten allgemeinen Vorwürfen an die Lehrerschaft. Erst als nach farblosen Grundsatzgesprächen ein Schüler mit dem Namen eines Lehrers herausplatzte, wurde es lebendig: „Der Herr Professor N. erklärt das

immer so, und von mir hat er es dann anders hören wollen. Ich finde das gemein!“

Zuerst betretenes Schweigen allerseits, dann eine betroffene, aber nicht unfreundliche Erklärung des anwesenden Professor N., wie er die Sache sieht.

Ermutigt durch das Beispiel dieses Schülers und des Lehrers sowie durch den Hinweis auf unsere gemeinsamen Erwartungen und Ängste wird das Gespräch lebhaft, ja stürmisch — aber immer offen und freundschaftlich, ohne je kränkend zu sein. Es sind ja alle Betroffenen anwesend und können sofort sichtbar und spürbar aufeinander eingehen.

Nach hitzigen Argumenten, sachlicher Heftigkeit, befreiendem Lachen sind alle Beteiligten erleichtert und hoffnungsvoll. An diesem Abend wurden die Probleme nicht gelöst, aber es wurde ein gemeinsamer Weg zu einem - brauchbaren Abschluß des Schuljahres gefunden.

Die damals „schwierigen“ zweiten Jahrgänge werden im nächsten Schuljahr solide Maturajahrgänge sein.

Dieser erste Schüler-Eltern-Lehrer-Abend hat das Klima der gesamten Lehranstalt für Kunststofftechnik mit verändert. Wir haben mittlerweile die Erfahrungen gemacht, daß Offenheit der Schüler und Eltern von den Lehrern begrüßt und nicht „gerächt“ wird, daß Forderungen der Leh-

rer an die Schüler nicht „Sadismus“, sondern verantwortungsvolle Berüfsvorbereitung sind, daß Eltern ihre Kinder in der Schule ganz anders erleben als zu Hause, daß sogar Lehrer und Eltern etwas dazulernen können, selbst wenn sie es nicht für notwendig gehalten hätten.

Wir lernen, immer besser miteinander umzugehen und uns nicht durch Funktionäre vertreten zu lassen. Wir lernen, daß Probleme die lösen müssen, die sie unmittelbar miteinander haben. Erst wenn die direkt Betroffenen dazu nicht imstande sind, werden Jahrgangsvorstand, Jahrgangs-sprecher, Jahrgangskonferenz und im Notfall hierarchische Stufen einbezogen.

An der erfrischenden Offenheit unserer Schüler-Eltern-Lehrer-Abende haben wir bewußt erlebt, daß sogar wir Österreicher fähig sind, Probleme zu lösen statt zu verdrängen.

Ich fasse die schwerfälligen und formalistischen Vorschriften des Schulorganisationsgesetzes so auf, daß sie vor allem bei Auseinandersetzungen dem Schüler Recht verschaffen sollten. Wenn aber ein Gegensatz einmal den Weg des Gesetzes und nicht den des Vertrauens geht, scheint mir ohnehin jede sinnvolle weitere Zusammenarbeit zwischen Schülern, Eltern und Lehrern zerstört.

Der Autor ist Vorstand der TGM-KUNST-STOFFTECHNIK in Wien-Brigittenau.

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