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Keine Folklore mehr

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Bis Anfang August 1975 hat es das Schicksal mit Giscard d'Estaing und seinem Team gut gemeint. Es gab zwar zahlreiche Aufmärsche, die Gewerkschaften formulierten ihre Forderungen mit Nachdruck, fast eine Million Arbeitslose bedrohen den Bürgerfrieden— aber es kam zu keiner Staatskrise, wie sie vorübergehend die Vorgänger, General de Gaulle und Georges Pompi-dou, kennenlernen mußten. Die politischen Beobachter glaubten, annehmen zu können, daß eine ernste Kraftprobe zwischen der Regierung und den Arbeitnehmerverbänden im Herbst stattfinden werde; also erwartete es der Staatschef von Georges Seguy, dem allmächtigen Generalsekretär der kommunistisch orientierten Gewerkschaft CGT. Doch nicht dieser, sondern der korsische Arzt Edmond Simeoni prüfte die Institutionen der Republik auf ihre Standfestigkeit. Am 22. August brach eine seit Jahren schwelende Krise auf der Insel Korsika aus.

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Bis Anfang August 1975 hat es das Schicksal mit Giscard d'Estaing und seinem Team gut gemeint. Es gab zwar zahlreiche Aufmärsche, die Gewerkschaften formulierten ihre Forderungen mit Nachdruck, fast eine Million Arbeitslose bedrohen den Bürgerfrieden— aber es kam zu keiner Staatskrise, wie sie vorübergehend die Vorgänger, General de Gaulle und Georges Pompi-dou, kennenlernen mußten. Die politischen Beobachter glaubten, annehmen zu können, daß eine ernste Kraftprobe zwischen der Regierung und den Arbeitnehmerverbänden im Herbst stattfinden werde; also erwartete es der Staatschef von Georges Seguy, dem allmächtigen Generalsekretär der kommunistisch orientierten Gewerkschaft CGT. Doch nicht dieser, sondern der korsische Arzt Edmond Simeoni prüfte die Institutionen der Republik auf ihre Standfestigkeit. Am 22. August brach eine seit Jahren schwelende Krise auf der Insel Korsika aus.

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Bei jedem offiziellen Besuch eines Ministerpräsidenten oder eines sonstigen Mitglieds der Regierung auf der „Insel der Schönheit“ — der letzte von ihnen war Messmer, Anfang 1974 —t wurde mit Versprechungen nicht gespart. Leider blieb es dabei, und die Korsen versuchen nun mit bewaffneten Überfällen, in-surektionellen Kundgebungen das zu erreichen, was sie auf dem Verhandlungsweg nicht erzielen konnten. Bisher wurden die Bömbenexplosio-nen, die in regelmäßigen Abständen korsische Städte und Dörfer erschütterten, als eine Art lokaler Folklore betrachtet. Seit Ende August ist jedoch Blut geflossen, drei Gendarmen fielen im Kugelregen, und zahlreiche Verwundete auf Seiten der Ordnungstruppen wie der Autono-misten sprechen eine deutliche Sprache. Man vergesse nicht, daß im Mai 1968 trotz der Heftigkeit der Auseinandersetzungen kein einziger Toter zu beklagen war! Warum also diese Kleinrevolution in einer Region, welche die Natur mit soviel Schönheit und Charme ausgestattet hat?

Zum Verständnis der Situation müssen einige Merkmale angeführt werden, die spezifisch für Korsika sind. Die Insel zählt gegenwärtig 240.000 Einwohner, davon 173.000 gebürtige Korsen, 17.000 Rückwanderer aus Algerien und 50.000 Ausländer, vorwiegend Italiener und Marokkaner. 500.000 Korsen sind in den letzten 30 Jahren ausgewandert; fast 100.000 leben in der Gegend von Marseille. Im Jahr 1974 besuchten mehr als 500.000 Touristen, davon die Hälfte aus dem Mutterland, die Insel.

Mehr als 60 Prozent der staatlichen Angestellten Korsikas stammen vom Kontinent. Die Einheimischen fühlen sich von diesen Präfekten und Beamten unverstanden. Die politischen und sozialen Strukturen der Insel können als veraltet angesehen werden. Die politische Macht liegt in der Hand einflußreicher Familienclans, die oft nur durch offenen Wahlschwindel ihre Positionen halten können. Etwas ironisch meinte ein Pariser Wochenmagazin, daß auf Korsika sämtliche Kinder und eine Generation von Verstorbenen ebenfalls zur Wahl gingen. Das größte Problem der Insel ist es, der Emigration junger Männer und Frauen ein Ende zu setzen und der heranwachsenden Generation im eigenen Land Arbeitsplätze zu sichern. Das zweite Problem, welches gerade durch die Inflation eine besondere Note erhält, ist die Tatsache, daß die Lebenshaltungskosten um 20 bis 30 Prozent höher sind als auf dem Festland. Schließlich sei noch auf die Ansiedlung von Algerien-Franzosen hingewiesen, die dank ihrem Dynamismus und ihrer Erfahrung einen Großteil des Weinbaus und -handels in ihre Hände gebracht haben. Diese „Schwarzfüße“, wie ihr Spitzname in Algerien lautete, hatten von der Regierung beachtliche Prämien erhalten, um den Verlust ihres Eigentums in der früheren nordafrikanischen Provinz zu kompensieren. Eine Integrierung der Algerien-Franzosen in die lokale Bevölkerung fand nicht statt; die Rückwanderer werden bis zum heutigen Tag als Fremdkörper empfunden und verächtlich als „Vertreter des Kolonialismus“ bezeichnet.

Während der III. und IV. Republik wanderten junge Korsen in die überseeischen Länder des französischen Imperiums aus und machten dort oft bemerkenswerte Karrieren. Nach der Liquidierung des Kolonialreichs strömten diese Leute nach Frankreich zurück, womit der große Prozentsatz von Korsen jn der staatlichen Verwaltung zu erklären ist. In den letzten Jahren machte sich zunehmend der Wunsch bemerkbar, eine gewisse Autonomie zu erhalten und die traditionellen Werte einer eigenständigen Kultur zu pflegen. Zuerst schüchtern, dann immer stärker, bildeten sich Zellen, Gruppen und Bewegungen, die einem korsischen Nationalismus huldigten. Die Masse der Einwohner verfolgte mit wachsender Sympathie die Entwicklung der Verbände. Einige wirkten fast ausschließlich im Untergrund und träumten von einer souveränen Republik. Sie sind für die zahlreichen Attentate der vergangenen Jahre verantwortlich zu machen. Die bedeutendste, ARC (Action pour la Renaissance de la Corse), arbeitete bis zum 22. August innerhalb der Legalität und stellte Forderungen auf, die durchaus vernünftig klingen. Ihre Führer sind zwei Arzte, Max und Edmond Simeoni. Sie vermochten in diesem Sommer zumindest 6000 Personen für ihre politischen Ziele — eine innere Autonomie — zu gewinnen. Im Gegensatz zu anderen Autonomistenbewegun-gen im Baskenland und in der Bretagne, die meist der extremen Linken angehören, wünscht ARC keine politische Farbe anzunehmen. Es handelt sich bei ihrem Konzept um einen vagen Sozialismus ohne besondere Ideologie.

Einige Algerien-Franzosen, die auf Korsika die größte Weinexportflrma gegründet haben, gerieten in den Verdacht, Weinschiebungen begangen zu haben. Als diese Gesellschaft nun im Sommer in Konkurs ging, wurden 600 korsische Winzer schwer geschädigt Das war der berühmte Tropfen, der den Krug zum Überlaufen brachte. 50 bewaffnete ARC-Anhänger besetzten in der Nacht vom -21. zum 22. August den Weinkeller eines Algerien-Franzosen in der Nähe des Städtchens Aleria. Sie nahmen auch sechs Geiseln, die sie jedoch kurz darauf wieder freiließen. Statt zu verhandeln, riegelten daraufhin schwerbewaffnete Ordnungstruppen das Gebiet ab, und es kam zu einem Gefecht, bei dem zwei Gendarmen ihr Leben lassen mußten. Die Chefs der Autonomiebewegung und zahlreiche Zeugen bestreiten die offizielle Darstellung, wonach die 50 Männer sofort auf die Belagerer geschossen hätten. Der Präfekt klagte die korsische Gruppe außerdem an, mit modernsten Maschinenpistolen ausgerüstet gewesen zu sein. Diese Waffen sollen, gemäß der staatlichen Version, aus einem anderen Mittelmeerland den Autonomisten geliefert worden sein. Auf alle Fälle konnten sich die Aufständischen nach der blutigen Auseinandersetzung ungeschoren entfernen und leben derzeit nach einer geheiligten Tradition als „bandits“ in den Wäldern und Bergen der Insel. Einige Tage später kam es zu einer neuerlichen Auseinandersetzung in der Stadt Bastia, bei der ein Polizist getötet wurde. Ungefähr -300 Jugendliche beherrschen zeitweise die Straßen Bastias, und in manchem erinnert die Situation an Vorfälle während des Algerienkriegs. Die Regierung oder besser gesagt: Innenminister Poniatowski, der zu dieser Zeit den Ministerpräsidenten und den Armeeminister — beide auf Urlaub — vertrat; entsandte Fallschirmjäger und die bekannte Spe-zialeinheit der Polizei, das Kommando Anti-Gang. Letzteres wird in der Regel bei Geiselnahmen und großen Hold-ups in Marsch gesetzt. Nun klagen die Korsen die Regierung an, sie sehe in den „Patrioten“ nur üble Gangster. Ohne Zweifel haben die zuständigen Behörden zahlreiche psychologische Fehler begangen, indem sie sofort auf die Macht pochten, ohne ein Konzept zur Entwicklung anzubieten. Wohl hatte das zuständige Ministerium einem bekannten Technokraten, Libert Bou, den Auftrag erteilt, eine Enquete über die wirtschaftliche und soziale Situation der Insel anzufertigen. Libert Bou, der seinerzeit die organisatorischen Vorbereitungen zur Übersiedlung der Pariser Markthallen nach Rungis durchführte, legte ein vernünftiges Programm vor, das in der ersten Stufe 250 Millionen Francs kosten sollte. Die Regierung sieht vorläufig jedoch nur die Ausschüttung von zirka 27 Millionen Francs vor. Das empfinden die Korsen durchaus nicht als eine großzügige Geste. Obwohl die verschiedenen Wortführer der Insel, einschließlich des Bischofs, die Regierung baten, den Dialog zu beginnen, setzt die Regierung alles auf die Karte der Repression. Denn es geht nicht darum, die Region bevorzugt zu behandeln, sondern um einen Standpunkt, der große politische Bedeutung hat Schon General de Gaulle hatte die Gefahr der zu straffen Zentralisierung Frankreichs erkann, die nur aus der Geschichte zu erklären ist. Der jakobinische Geist, am würdigsten vertreten durch den Exministerpräsidenten Debre, lehnt jede Forderung nach einer Föderali-sierung des Staates ab. Die Zentralbürokratie scheut davor zurück, auch nur die kleinsten Konzessionen für ein Eigenleben der verschiedenen Regionen zu wagen. Man darf überzeugt sein, daß weder der angedrohte Prozeß gegen Edmond Simeoni noch der Einsatz von Spe-zialtruppen den Brandherd beseitigen können. Wird die V. Republik aus den Ereignissen auf Korsika die Lehre ziehen, die de Gaulle gezogen hatte und an deren Verwirklichung er scheiterte — oder wird die Insel das Irland Frankreichs?

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