6797320-1971_16_11.jpg
Digital In Arbeit

Keine Kunst ohne Kanon

19451960198020002020

Wollte man die Bedeutung und die Größe Strawinskys mit einem Satz kennzeichnen, so könnte man sagen: im breiten Fluß der Musikentwicklung dieser letzten fünfzig, sechzig Jahre ist sein Werk die mächtigste Strömung gewesen, und sein Ruhm, seine Bedeutung für die Musikwelt basiert nicht auf irgendeiner Lehre, einer neuen Theorie oder Methode des Komponierens, sondern auf einer ununterbrochenen Kette von Meisterwerken.

19451960198020002020

Wollte man die Bedeutung und die Größe Strawinskys mit einem Satz kennzeichnen, so könnte man sagen: im breiten Fluß der Musikentwicklung dieser letzten fünfzig, sechzig Jahre ist sein Werk die mächtigste Strömung gewesen, und sein Ruhm, seine Bedeutung für die Musikwelt basiert nicht auf irgendeiner Lehre, einer neuen Theorie oder Methode des Komponierens, sondern auf einer ununterbrochenen Kette von Meisterwerken.

Werbung
Werbung
Werbung

Der Meinungsstreit um die vielen „Stile”, deren sich Strawinsky in seinen Werken einerseits bediente und die er anderseits kreiert hat, ist ebenso zur Ruhe gekommen, wie die Verwunderung des Publikums über seine „Wandlungsfähigkeit” aufgehört hat. Die Phasen seines Schaffens seien, trotz ihres ephemeren Charakters, in Erinnerung gerufen.

Da ist zunächst die „russische Periode” (obwohl Strawinsky nie aufgehört hat, Russe, und zwar orthodoxer, d. h. strenggläubiger, zu sein). Sie reicht — wenn wir einen später beendeten Nachzügler, das Ballett „Les Noces”, unberücksichtigt lassen, etwa von 1909 bis zum Ende des ersten Weltkriegs. Hierauf folgt, mit „Pulcinella” nach Pergolesi beginnend, die neoklassizistische Periode, welche rund drei Jahrzehnte währte und die mit der Oper „The Rake’s Progress” abgeschlossen wurde. An diesem Punkt glaubten auch die überzeugtesten Verehrer Strawinskys, daß ein Ende, diesmal das letzte Ende, gekommen sei, daß von hier kein Weg weiterführe, daß der Meister sich „ausgeschrieben” habe und sich nur noch wiederholen könne. Doch hätte die Kleingläubigen seine „Messe” von 1948 zuversichtlicher, seine Kritiker vorsichtiger stimmen müssen. Denn hier bahnte sich etwas Neues an, das zum erstenmal im „Septett” von 1953 zutage trat: Strawinsky begann mit Tonreihen, zunächst mit siebenstufigen, zu experimentieren, und unvergeßlich wird uns die Spannung sein, die vor der venezianischen Premiere dieses Werkes herrschte: Wird man einen neuen Strawinsky zu hören bekommen — oder hat sich der damals schon Ein- undsiebzigjährige in den Allerweltsjargon der Zwölftonmusik geflüchtet und ist einer unter vielen geworden? Bereits jenes erste Reihenwerk und alle folgenden bewiesen es: das Wunderwerk der Ballettpartitur zu „Agon” von 1957; die beim ersten Anhören spröden, in der choreographischen Ausdeutung durch Balanchine zauberhaft-schönen „Movements for Piano and Orchestra” von 1960 und eine Reihe anderer Spätwerke, die bei uns noch nicht zu hören waren: Strawinsky war er selbst geblieben.

*

Denn: Löst man den Blick von den einzelnen Phasen und Einschnitten und betrachtet sein Werk aus einiger Entfernung, so bietet sich das richtige Bild. Man erkennt zunächst das wesentlich und unverwechselbar Strawinskysche in einer Art des direkten, des unmittelbaren Zugriffs, die Fähigkeit, jedes selbstgestellte Problem — nachdem alles Unwesentliche beiseite geschoben ist — auf seinen Kern zu reduzieren, wodurch „ein technisches oder ästhetisches Exempel” statuiert wird. Bei dieser Arbeitsweise gibt es keine Wiederholungen, kein Selbstzitat, auch keine kontinuierliche „Entwicklung” im traditionellen Sinn. Wohl aber gibt es den sehr persönlichen, unverwechselbaren Eigenstil, der dem „Petruschka” von 1911 ebenso aufgeprägt ist wie dem Bläseroktett von 1923, dem jazzartigen „Ebony Concerto” oder den letzten „in memoriam” geschriebenen Kompositionen.

*

Allen Werken, mit Ausnahme eines einzigen, des „Sacre du printemps”, in dem Strawinsky den unteren, chthonischen Mächten gehuldigt hat, ist etwas gemeinsam: sie stehen unter dem Gesetz der autonomen Schönheit der Musik, dem Gesetz des Maßes und der Ordnung. Zum apollinischen Schönheitsideal hat sich Strawinsky ausdrücklich an jener Stelle seines Lebensberichtes („Chro- niques de ma vie”) bekannt, wo er das klassische Ballett rühmt, „welches in seinem Wesen, durch die Schönheit seiner Ordnung und durch die aristokratische Schönheit seiner Form am vollkommensten meiner Kunstauffassung entspricht. Denn hier, im klassischen Tanz, sehe ich die kunstvolle Konzeption über die Abschweifung triumphieren, die Regel über das Willkürliche, die Ordnung über das Zufällige. Ich komme hiermit, wenn man es so ausdrücken will, auf den ewigen Gegensatz in der Kunst zwischen dem apollinischen und dionysischen Prinzip. Dieses letztere führt in seinem Endresultat zur Ekstase, das heißt zum Aufgeben des Ich, während die Kunst doch vor allem Bewußtheit und Verantwortung des Künstlers verlangt. Meine Entscheidung zwischen diesen beiden Prinzipien dürfte also nicht mehr in Zweifel gezogen werden”.

In dem Ballett in zwei Bildern „Apollon Musagėte” hat Strawinsky aufs deutlichste dieser seiner Kunstanschauung gehuldigt. Er spricht mit Begeisterung von der Arbeit an dem Werk, einem „ballet blanc”, das, ohne Farbreiz und frei von Überladungen, aus dem reinsten Geiste der Klassik geboren ist. Die feierliche Nüchternheit des Stils bestimmte auch die Instrumentierung für Streichorchester sowie die streng diatonische Schreibweise. Zugunsten der reinen Zeichnung und einer polyphonen melodischen Musik verzichtete er auf das polychrome, klanglich heterogene große Orchester. Die Realisierung dieses Werkes durch Balanchine, der für die Choreographie Gruppenbewegungen und Linien von großer Noblesse und klassischer Eleganz fand, war eine der befriedigendsten, die der Komponist erlebte, und noch im hohen Alter — wie ich aus einem Gespräch mit Strawinsky weiß — war ihm, zusammen mit der Partitur von „The Rake’s Progress” dieses Werk besonders teuer. Auf die Frage allerdings, ob er bei der Komposition an Griechenland und dessen Säulentempel gedacht habe (von denen man weiß, daß er sie besonders liebte), antwortete er: „Nein, an Streichinstrumente!”

In der Selbstdarstellung Strawinskys steht auch der mißverständliche Passus, in welchem Strawinsky bestreitet, daß man durch Musik ein Gefühl, eine Haltung, einen Gemütszustand oder eine Naturerscheinung ausdrücken könne. Ausdruck sei keine immanente Fähigkeit der Musik, und wo sie etwas auszudrücken scheine, sei dies ein akzidentielles Element, eine Illusion des Hörers, eine tiefeingewurzelte Konvention. Aber schon wenige Zeilen weiter heißt es: „Alle Mißverständnisse haben die Ursache, daß die Leute immer etwas anderes suchen als das, was die Musik wirklich ist… Sie kommen nicht dazu, zu begreifen, daß Musik eine Sache für sich ist, unabhängig davon, was sie ihnen vielleicht suggerieren könnte.” Eine Sache für sich — gewiß. Und trotzdem ist man versucht, den Komponisten Strawinsky ein wenig gegen den sehr pointiert formulierenden Theoretiker in Schutz zu nehmen, der in seiner „Musikalischen Poetik” nicht nur sehr beredt für die Tradition, sondern auch für den Akademismus eintrat.

*

Strawinsky hat sich seit „Pulcinella” über das barockisierende „Concerto für Klavier und Blasorchester” bis zum „Cantium Sacrum ad Honorem Sancti Marei Nominis” von 1956, das ursprünglich als Passion im Stil von Schütz und J: S. Bach geplant war, immer wieder traditioneller Formen bedient. Aber tat er dies, wie seine Kritiker behaupten, wirklich nur als Neoklassizist, als Stilkopist, der Musik über Musik macht und unechtes Altes produziert (du faux ancien)? Wir müssen hier, um zu einem richtigen und gerechten Urteil zu gelan gen, unterscheiden zwischen Tradition aus Gewohnheit einerseits, die dazu neigt, mechanisch zu werden und sich auf dem Weg des geringsten Widerstandes zu tummeln — auf sie ist das Mahler-Wort „Tradition ist Schlamperei” gemünzt —, und anderseits echter Tradition, die aus einer bewußten und kritischen Vorliebe entsteht und an die man anknüpft, um etwas Neues zu machen, in neuem Geist und mit neuen Methoden. Strawinskys Traditionalis- mus ist durchaus von der letzteren Art, und das Resultat ist eine neue Haltung, ein neuer klassischer Stil, der mit dem vergangener Epochen in Wettbewerb treten kann. Stra- winsky empfindet die abendländische Musik (hierzu das Bekenntnis: „Ich bin viel mehr Abendländer als dem Osten zugehörig”) als eine Einheit, ein Corpus. Die einzelne musikalische Komposition erscheint ihm nicht ausschließlich als persönliche Schöpfung, sondern als eine zutiefst der gesamten europäischen Tradition verpflichtete Leistung.

*

Es ist richtig, daß sich Strawinsky bald der einen, bald einer anderen musikhistorischen Epoche zugewendet hat. Aber diese Unterscheidung bezieht sich nur auf das Oberflächlichste. Vielleicht könnte man, wenn schon Strawinskys Phasen bestimmt werden sollen, sagen, daß die frühen Werke die sichtbare Welt in Spiel und Tanz spiegeln (Feuervogel, Petrushka, Frühlingsfeier, Die Nachtigall, Reinecke Fuchs, die Geschichte vom Soldaten Pulcinella, Mawra, Oedipus Rex, Apollon Musagėte, Der Kuß der Fee, Persephone, Kartenspiel und andere), daß die mittleren als absolut-musikalische Aussagen stark vom Instrumentalen im weitesten Sinn bestimmt sind (Bläsersymphonie, Concerto für Klavier und Blasorchester, Sonate und Serenade für Klavier, Capriccio für Klavier und Orchester, Concerto in D für Violine und Orchester, Duo Concertante, Concerto für zwei Klaviere, Dumbarton Oaks, Symphonie in C. Concerto in D, Symphony in three movements und andere), und daß sich schließlich in Strawinsky« letzten Werken (seit -der.. Messe .von. .1948). eine sublime Geistigkeit manifestiert, die zuweilen in allerpersönlichsten Ausdruck umschlägt. Die Sprödigkeit des Stils, der Harmonik und der Instrumentierung verleihen gerade diesen Werken Strawinskys (Septett, In Memoriam Dylan Thomas, Cantata und Three songs from

William Shakespeare) nicht nur hohen artistischen Reiz, sondern stempeln sie auch zu esoterischen Kunstwerken ersten Ranges. Aber diese letzte Werkreihe ist auch entwicklungsgeschichtlich von höchster Bedeutung. Seit dem Septett von 1953 bedient sich Strawinsky, wie bereits erwähnt, der seriellen Technik und verwendet erst siebentönige, im Caticum Sacrum auch zwölftönige Reihen, ohne der neuen Technik seine persönliche Eigenart zu opfern. Damit hat er eine der fatalsten Antithesen und Diskussionen unserer Zeit (hie Zwölftöner — dort alle übrigen „konservativen” und „reaktionären” Komponisten) ad absurdum geführt. Mit Strawinskys Huldigung an Webern stürzen die theoretischen Kartenhäuser seiner Kritiker, die auf dem Fundament der oben zitierten Antithese errichtet waren, in nichts zusammen.

*

Der deutsche Musikwissenschaftler Heinrich Lindelar betont in einer Formanalyse von Strawinskys „Can- ticum sacrum” als Konstante in Strawinskys gesamtem Werk das Ordo mirumque im Sinne des Aquinaten: „Dergestalt bestimmen Ordo und Minim nicht nur das näher liturgiebezogene Spätwerk von Strawinsky, sondern sind als Ferment, als Element, bereits in den russisch-orthodoxen Kultrudimenten seines Frühwerks nachzuweisen.” Kunst ohne Kanon habe für ihn keinerlei Interesse, erklärte Strawinsky in einem Radiointerview anläßlich der Uraufführung seiner Oper „The Rake’s Progress”. Man erlange die Freiheit nicht, wenn man keine Beschränkung hinnehme, nicht innerhalb fest bestimmter Grenzen arbeite. Und auf die Bemerkung: das sei der katholischen Auffassung der Freiheit sehr ähnlich, antwortete er: „Der römisch- katholischen, gewiß. Aber das ist nicht erstaunlich. Ich bin in der tiefen Bewunderung des Katholizismus aufgewachsen, wozu mich sowohl meine geistige Erziehung als auch meine Natur gebracht haben. Ich bin viel mehr Abendländer als dem Osten zugehörig..

».Zum,Schluß, noch die wichtigsten Lebensdaten: Igor Fjodorowitsch Strawinsky wurde am 17. Juni 1882 in Oranienburg im Gouvernement Petersburg geboren. Er entstammt einer Musikerfamilie, die, wie neuere Forschungen erwiesen haben, nicht rein russisch ist, da sich unter den Vorfahren auch polnische Landedelleute und, mütterlicherseits, ein deutschbaltischer Urgroßvater befinden. Mit 20 Jahren verlor Strawinsky den Vater, seit 1910 lebte er in Paris, wo er mit Serge de Diaghilew zusammenarbeitete, mit dem er bis 1928, ein Jahr vor dessen Tod, befreundet war. Während des ersten Weltkriegs, bis 1920, lebte Strawinsky am Genfersee, bis 1939 im Süden Frankreichs, und zwar in Biarritz, Nizza und Vareppe bei Grenoble. Doch nahm er immer wieder auch in Paris Aufenthalt und reiste viel, teils konzertierend (als Pianist seiner eigenen Werke), teils als Dirigent. Das Jahr 1939 war für ihn persönlich — wie für den alten Kontinent — von schicksalhafter Bedeutung: er verlor knapp nacheinander seine Mutter, seine älteste Tochter und seine Frau. Unmittelbar vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges betrat Strawinsky, von der Harvard-Universität zu Vorlesungen eingeladen, amerikanischen Boden. 1940 heiratete er zum zweitenmal, und zwar Vera Sudėikina, eine Exilrussin, die früher Ballerina in Diaghilews Truppe gewesen war. Im Jahr darauf siedelte sich Strawinsky in Kalifornien an, auf einem der Hügel, die auf Hollywood hinunterschauen.

1945 gab Strawinsky die zwanzig Jahre vorher erworbene französische Staatsbürgerschaft auf und wurde Amerikaner. Seine nächsten Freunde „drüben” sind der Choreograph Balanchine und der junge amerikanische Musikologe und Dirigent Robert Craft, den Strawinsky — obwohl er auch eigene Kinder hat — wie einen Sohn liebte und dem er vielerlei künstlerische und persönliche Dinge anvertraut hat. Sie sind in dem Buch „Gespräche mit Strawinsky” aufgezeichnet und striegeln den großen Musiker, den vitalen Menschen, den unabhängigen Denker und den gläubigen Christen wider.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung