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Keine „Produktionseinheit“

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Max Horkheimer sah in der Familie eine Einrichtung, die die Autoritätsstruktur der Gesellschaft reproduziert und damit gesellschaftlichen Fortschritt lähmt. Er entwickelte aus dieser These eine neue Version der Theorie von Marx und Engels, daß die Familie gesellschaftlich schädlich sei, weil sie, gestützt auf die Ubermächtigkeit der persönlichen Eigentumsvorstellungen, die soziale Ungleichheit und das System des Kapitalismus fortführe. Mit dem Verschwinden des Kapitalismus müsse auch die bürgerliche Familie verchwinden.Die bürgerliche Familie ist zwar noch nicht verschwunden. Sie steht aber heute im ganzen Westen im Kreuzfeuer progressiver Ideologien, die suchen, wie sie sie überflüssig machen könnten. Auch die Diskussion über die von der Regierung geplante Ehescheidungsreform geht weitgehend in diese Richtung.

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Max Horkheimer sah in der Familie eine Einrichtung, die die Autoritätsstruktur der Gesellschaft reproduziert und damit gesellschaftlichen Fortschritt lähmt. Er entwickelte aus dieser These eine neue Version der Theorie von Marx und Engels, daß die Familie gesellschaftlich schädlich sei, weil sie, gestützt auf die Ubermächtigkeit der persönlichen Eigentumsvorstellungen, die soziale Ungleichheit und das System des Kapitalismus fortführe. Mit dem Verschwinden des Kapitalismus müsse auch die bürgerliche Familie verchwinden.Die bürgerliche Familie ist zwar noch nicht verschwunden. Sie steht aber heute im ganzen Westen im Kreuzfeuer progressiver Ideologien, die suchen, wie sie sie überflüssig machen könnten. Auch die Diskussion über die von der Regierung geplante Ehescheidungsreform geht weitgehend in diese Richtung.

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In den fünfziger Jahren bemühte man sich, im Familienlastenausgleich die Familie zu starken. Diese Bemühungen drohen zu versanden, in Entwicklungen zu münden, die das Kind unter Umgehung der Familie an die Gesellschaft binden. Dies hat erst kürzlich eine Untersuchung der „Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft“ festgestellt. Steht die Familie, wie Horkheimer meinte, tatsächlich auf der Abschußliste?

Uie UN-Erklärung der Menschenrechte hat noch 1948 die Familie als natürliche und grundlegende Einheit der Gesellschaft deklariert und ihren Anspruch auf Schutz der Gesellschaft festgestellt. Mit dem Hinweis auf diese UN-Deklaration beginnt eine System- und Strukturanalyse der Familie in einem Sammelband zum Thema „Familie im Wandel“, der im Verlag Herder erschienen ist. Rudolf Weiler, Wien, und Valentin Zsifkovits, Graz, zeichnen für das Werk verantwortlich. 18 Autoren — Soziologen, Statistiker, Philosophen, Systemanalytiker,

Wirtschaftsexperten und Theologen— analysieren die Lage der Familie, ihre veränderten Funktionen und versuchen, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Dieser Blick - das sei vorweggenommen — fällt optimistischer aus, als es die skeptische Einführung vermuten ließe.

Trotz aller Hilfsmaßnahmen ist die Familie ins Hintertreffen geraten. Die Familie mit kleinen Kindern, besonders die kinderreiche Familie des Alleinverdieners, ist immer weniger in der Lage, auch nur annähernd den notwendigen Aufwand zu decken, geschweige denn mit dem Lebensstandard des Ledigen oder Kinderlosen mitzuhalten. Der soziale Status in der Wohlstandsgesellschaft mißt sich am Aufwand. Je mehr Kinder vorhanden sind, desto weniger können die Kinderbeihilfen oder Steuererleichterungen den Mehraufwand an Grundausgaben decken. Der gesellschaftliche Druck, der Wunsch, mithalten zu können, veranlaßt immer mehr Ehepaare, auf Kinder ganz zu verzichten oder nur eines zu haben.

Die Familie hat viele ihrer Funktionen, die sie früher zu erfüllen hatte, an andere Institutionen abge-.geben. Sie ist nicht mehr die Produktionseinheit der vörindustriellen Gesellschaft; sie hat ihre Versorgungsaufgaben an die Sozialversicherung, ihre Erziehungsleistung an Schulen und Lehrwerkstätten, ihre Freizeitaktivitäten an eine immer stärker werdende Unterhaltungsindustrie abgegeben. Was bleibt ihr noch an Funktionen?

Man versuchte, sie durch andere Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens zu ersetzen — seit mehr als 200 Jahren bietet sich eine Vielzahl von Experimenten an, von den Gemeinschaftssiedlungen amerikanischer Sekten über die israelischen Kibbuzim bis zu den Kommunen unserer Zeit. Die meisten hatten nur kurzen Bestand. Um sich zu bewähren, ist eine Vielzahl von Voraussetzungen nötig, die von den Mitgliedern meist noch viel mehr Gemeinschaftsgefühl und Disziplin verlangen, als sie in der Normalfamilie unerläßlich sind. Vor allem die Kindererziehung kommt ohne eine Betreuung durch eine Dauerbezugsperson nicht aus.

Warum also krampfhaft nach einem Ersatz suchen? Vielleicht weil den Gesellschaftspolitikern, den Ideologen, den Soziologen ein Element fremd ist, das nicht in Zahlen faßbar ist, aber doch wesentlich zum Verständnis der Familie beiträgt — die Liebe?

„Leben in der Liebe“ nennt auch Rudolf Weiler die entscheidenden emotionellen Kontakte im sozialen Umgang, die beim Säugling schon in den ersten Lebensmonaten einsetzen' müssen. Durch die Liebe in der Familiengemeinschaft lernt der Mensch auch die Liebe, die er dem Mitmenschen überhaupt schuldet, stellt Johannes Messner fest. Für die Erkenntnis der sittlichen Prinzipien ist das Erleben der Familiengemeinschaft mit Eltern und Geschwistern von größter Tragweite. Von hier aus führen Erfahrung und Erkenntnis zur Bedeutung des menschlichen Zusammenlebens in der größeren Gemeinschaft.

Auch die in der Familie naturnotwendig gegebenen Schwierigkeiten und Spannungen lassen sich im Zeichen der Liebe meistern, die Belastungen aus dem „Familienzyklus“, wie ihn Jakobus Wössner, der kürzlich verstorbene Linzer Sozialphilosoph, schildert: von der Hochzeit über die Geburt und die Erziehung der Kinder bis zu deren Selbständigwerden und die nun einsetzende Phase einer neuen, neuzuformenden Zeit der Ehepartner.

Werden ideelle Werte erst dann Anerkennung finden, wenn man auch sie quantifizieren, in Zahlen ausdrücken, volkswirtschaftlich auswerten kann? Bei der letzten Konferenz über Weltmodelle in Laxenburg war es schon so weit, berichtet Johann Millendorfer. Dort wurde ein mathematisch formulierter Zusammenhang vorgelegt, der aufzeigte, daß menschliche Verhaltensweisen, die Art zwischenmenschlicher Beziehungen, das System der Werte und Einstellungen auch volkswirtschaftlich einen entscheidenden, ökonome-trisch meßbaren Faktor für die wirtschaftliche Effizienz darstellen.

Amerikanische Untersuchungen hatten schon vorher festgestellt, daß zwischen der Persönlichkeitsbildung und der Familienatmosphäre ein direkter Zusammenhang besteht. Dann ging man daran, objektive Daten, wie Bruttoproduktionswerte, Pro-Kopf-Statistiken der psychosomatischen Krankheiten, der Selbstmorde, Psychosen und Neurosen — mit ihren gigantischen Belastungen des Volksvermögens —, in den Computer zu speichern. Man ergänzte mit Befragungen und Textanalysen. Man erkannte, daß die Familie — insbesondere die christliche — weit größere Aufgaben hat, als nur als Ort der Reproduktion und der emotionalen und geschlechtlichen Befriedigung zu dienen. Sie ist nicht nur maßgebend für die durch sie tradierten Formen des menschlichen Zusammenlebens, sondern diese wirken sich auch beim Zusammenarbeiten mit andern durch Effizienz aus.

Millendorfer kommt damit zum Blick in die Zukunft. Weltmodelle, wie jene der „Grenzen des Wachstums“ oder der „Menschheit am Wendepunkt“, wie sie seit einigen Jahren durch die Diskussion geistern, deuten an, daß sich die Menschheit vor einer Wende befindet. Millendorfer meint, vor einer „kopernikanischen“ Wende zu stehen, wie jener, als die Menschen plötzlich einsehen mußten, daß nicht sie Mittelpunkt des Kosmos sind.

Diese „kopernikanische Wende des Geistes“ bestünde nach Millendorfer in einer Metamorphose des Fortschrittes: Nicht mehr der Mensch als Diener des Fortschrittes, sondern der Fortschritt als Diener des Menschen. Neue Technologien des Konsums und der Produktion müßten entwickelt werden, um die Wegwerftechnologien und mit ihnen die Wegwerfideologien abzulösen — jene Ideologien, die in Wegwerfehen und Wegwerfembryos münden.

In dieser neuen Gesellschaft stellt die erneuerte, auch ihre immateriellen Möglichkeiten zur Lebensgestaltung bewußt einsetzende Familie einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung der geforderten „kopernikanischen Wende“ dar, schließt Millendorfer.

Diese neue, in einen neuen Sozialzusammenhang gestellte Familie löst den alten „Haushalt“ ab und ist über Konsumeinheit, Reproduktion, emotionelle und sexuelle Aufgaben hinaus der eigentliche Ort des Lebens.

Diese Vision der Familie kann aber nicht ohne ein Besinnen auf die Sinnfrage des Lebens und ohne ernsthafte intellektuelle Anstrengungen zum Verständnis der gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge in der neuen geschichtlichen Situation und nicht ohne ein Neuüberdenken der Überlegungen der letzten Jahrzehnte zu den Funktionen der Familie entworfen werden.

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