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Keine Stadt für alte Menschen

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Rund 30 Prozent aller Österreicher, die älter als 65 Jahre sind, leben in Wien - etwa 325.000 Menschen. Ein Drittel davon sind Männer, zwei Drittel Frauen.

130.0 Menschen, die älter als 65 Jahre sind, wohnen in der Bundeshauptstadt in Einpersonenhaushalten, meist in sogenannten Substandardwohnungen mit Toilette und Wasser am Gang des Stiegenhauses. 85 Prozent davon (rund 112.000 Personen) sind Frauen.

Ihr Feld sozialer Kontakte und sozialer Interaktionen, der sogenannte „Verkehrskreis“, ist äußerst eng. Annähernd 60 Prozent der Personen über 60 Jahre erhalten seltener als einmal in der Woche oder gar nie einen Besuch. Rund ein Viertel wird dagegen mehrmals pro Woche (also mit einiger Regelmäßigkeit) von jemandem in seiner Wohnung aufgesucht. Der Anteil jener, zu denen nie jemand kommt, wird mit höherem alter größer und beträgt bei den über 80jährigen über 10 Prozent.

Mehr als 75 Prozent der über 60jäh- rigen gehen seltener als einmal in, der Woche oder gar nie auf Besuch zu jemand anderem.

„Dieses doch relativ geringe Ausmaß an Besuchsaktivitäten unter der älteren Bevölkerung ist erstaunlich und liegt auch tatsächlich unter den Werten, die aus internationalen Studien bekannt sind, wie z. B. aus Dänemark, Großbritannien und den Vereinigten Staaten“, heißt es in einer „Vorstudie zur Untersuchung interprofessioneller Betreuungsbedürfnisse älterer Menschen“, die Anton Amann und Helga Velimirovic für das „Europäische Zentrum für Ausbildung und Forschung auf dem Gebiet der sozialen Wohlfahrt“ verfaßt haben.

In der Gruppe der alten Frauen in Wien besteht die höchste Armuts-

Wahrscheinlichkeit. Anton Amann nennt 1976 in Wien erhobene Fälle:

• Eine 84jährige Frau bezieht monatlich 1870 Schilling. Sie steht in ärztlicher Behandlung, muß Medikamente selbst bezahlen. Das Heizmaterial kauft sie sich von dem Geld, das sie von Verwandten zu Weihnachten geschenkt bekommt: „Ich leist’ mir nur das Notwendigste.“

• Eine 78jährige Frau mit einem monatlichen Einkommen von rund 2000 Schilling hat schon resigniert: „Was soll man schon tun? Wenn man nichts tun kann, wird man schon zufrieden sein - ich wart’ eh nur aufs Sterben.“ Nach einem leid vollen und entbehrungsreichen Leben ist sie allein und einsam: „Ich bin sehr eingeschränkt, kann mir ja nichts leisten, bald wird die Monatsmiete auf 800 Schilling monatlich erhöht.“

• Eine 83jährige Frau mit einem monatlichen Einkommen von 2200 Schilling ist schwerhörig, gehbehindert, lebt in tristen Wohnungsverhältnissen (Gangküche ohne Tageslicht, muffig, feucht, das Fenster des Kabinetts geht auf eine stark befahrene Straße): „Oft steh’ ich lange am Fenster und schau’

hinaus. Was soll man als alter Mensch schon tun?“

„In der überwiegenden Zahl der Fälle“, so Anton Amann, „trifft eine nachteilige Einkommenslage im Alter zusammen mit schlechten Wohnbedingungen, mit mangelhaftem Gesundheitszustand und mangelnder sozialer Integration - die Folgen bestehen dann nicht in einer Situation, die lapidar mit Armut umschrieben wird, sondern in Situationen, denen die Qualität potentieller oder tatsächlicher Verelendung zukommt.“

In der österreichischen Mikrozensuserhebung gaben rund 55 Prozent der Befragten an, daß sie über eine „sehr gute“ Gesundheit verfügen und nur eine Minderheit von 10 Prozent klagte über schlechte Gesundheit. Tatsächlich konnte im Alter von 60 bis 64 Jahre ein durchschnittlich sehr guter bis guter Gesundheitszustand in zwei Drittel aller Fälle bestätigt werden, bei den Menschen, die älter als 75 Jahre sind, fällt diese Rate dagegen auf ein Drittel aller Fälle.

Dabei ist der Anteil jener, die ihre Gesundheit als sehr gut bis gut einschätzen, unter den Frauen in allen Fällen beträchtlich niedriger als unter den Männern.

Auf Grund seiner empirisch-wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Problemen alter Menschen in Wien kommt Anton Amann zum Schluß, daß die Hauptursachen für relative Hilflosigkeit, soziale Isolierung, Desintegration und Abhängigkeit im schlechten Gesundheitszustand begründet sind:

„Allzu schnell scheint manchen Sozialplanem oder .Praktikern“ das Urteil von der Hand zu gehen, daß das System der sozialen Wohlfahrt eine Entwicklungsstufe erreicht habe, die die angemessene Versorgung und Un-

terstützung jedes einzelnen gewährleiste. Das Gegenstück ist dort zu suchen, wo Alter nur noch als Phase der Selbstfindung und Menschwerdung gesehen wird. Beide Tendenzen verschließen die Augen vor jenen, die in den Randbezirken des Produktionsund Konsumkarussels durch die Maschen des Wohlfahrtsstaates fallen. Schicksale und Lebenssituationen, die ob ihres absoluten Mangels an menschlicher Würde mich bei meinen Arbeiten sprachlos und betroffen machten, können nicht im Interesse einer heilen Welt hinwegpolitisiert werden.“

Anton Amann schlägt in seiner Studie eine Abkehr von Unterteilungen in Dienste für Alte, für Gebrechliche, für Einsame, für Kranke vor. Ihm geht es um die Konzentration auf Problemfelder, um eine interprofessionelle Betreuung, wodurch die ghettoisierende Wirkung eines falsch verstandenen Spezialistentums überwindbar wäre, denn Benachteiligte oder Einsame oder Behinderte, Alte oder Kranke haben sehr ähnliche Probleme. Unbeschadet der Frage, ob sie 60 oder 70 oder 90 Jahre alt sind.

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