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Keiner schlachtet die heilige Kuh

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Als vor fünfeinhalb Jahren katholische Bürgerrechtler marschierten, um auf die hoffnungslose politische und soziale Lage der Katholiken in Nordirland aufmerksam zu machen, war "in London eine Labour-Regierung am Ruder. Und der Premier hieß Wilson. Er mußte 10.000 Mann nach Ulster schicken, um die aufbegehrenden Unterdrückten vor dem Zorn der protestantischen Mehrheit (und ihrer Exekutive) zu retten. Als im katholischen Lager die IRA die Gemäßigten zur Seite schob, als die Bomben explodierten, die Stimmung radikaler wurde und die britischen Soldaten immer mehr ins Feuer beider Seiten gerieten, amtierte in London eine konservative Regierung. Premierminister Heath schickte einen Nordirlandminister, um eine politische Lösung zu suchen, und noch mehr Soldaten, um das Schlimmste zu verhüten.

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Als vor fünfeinhalb Jahren katholische Bürgerrechtler marschierten, um auf die hoffnungslose politische und soziale Lage der Katholiken in Nordirland aufmerksam zu machen, war "in London eine Labour-Regierung am Ruder. Und der Premier hieß Wilson. Er mußte 10.000 Mann nach Ulster schicken, um die aufbegehrenden Unterdrückten vor dem Zorn der protestantischen Mehrheit (und ihrer Exekutive) zu retten. Als im katholischen Lager die IRA die Gemäßigten zur Seite schob, als die Bomben explodierten, die Stimmung radikaler wurde und die britischen Soldaten immer mehr ins Feuer beider Seiten gerieten, amtierte in London eine konservative Regierung. Premierminister Heath schickte einen Nordirlandminister, um eine politische Lösung zu suchen, und noch mehr Soldaten, um das Schlimmste zu verhüten.

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Jetzt amtiert in London wieder eine Labour-Regierung und der Premier heißt wieder Wilson, aber die Hoffnung auf eine Lösung des Nordirland-Problems ist ferner denn je. Und es besteht kaum noch eine Chance, daß die heilige Kuh aller britischen Nordirland-Politik geschlachtet wird. Es fragt sich ja auch, ob man sie jetzt überhaupt noch schlachten kann. Die heilige Kuh der britischen Nordirland-Politik ist der Grundsatz, daß London keine politische Lösung erzwingen wird, die von der Mehrheit der nordirischen Bevölkerung nicht gutgeheißen wird.

Dieses Prinzip vom absoluten Primat einer demokratischen Willensbildung hat nur einen Schönheitsfehler. Dieser Schönheitsfehler ist die Anwesenheit einer gewaltigen britischen Streitmacht, die notwendig ist, um bis zum Auftauchen einer politischen Lösung den Status quo, sprich: ein Minimum ah Sicherheit für alle Teile der Bevölkerung, aufrechtzuerhalten. Und ist die Tatsache, daß nach fünfeinhalb Jahren massiver militärischer Präsenz die politische Lösung ferner ist denn je, während die Zustände im Lande immer unhaltbarer werden.

Das Jahr 1974 war in Nordirland ein Jahr weiter zunehmender Polarisierung — dies nach Jahren, in denen ein Maximum an Polarisierung längst erreicht zu sein schien. Nach einer Phase leicht abflauender Terrortätigkeit, die sehr voreilige Hoffnungen auslöste, die Dinge nun im Griff zu haben, kam es zu einer Häufung von Fememorden und zu schweren Zwischenfällen in den Internierungslagern. Die Aufstände der Insassen jener Anhaltelager, in denen Verurteilte, denen Gewaltakte nachgewiesen wurden, gemeinsam mit lediglich Verdächtigen sitzen, waren eine der in Nordirland sehr seltenen protestantisch-katholischen Gemeinschaftsaktionen, denn offenbar gingen Angehörige beider Konfessionen bei diesen Gefängnisaufständen nach gemeinsamen Plänen vor.

Die partielle Sistierung des Rechtsstaates, dem die unbefristete Anhaltung gefährlicher oder für gefährlich gehaltener Individuen auf den bloßen Verdacht hin zutiefst widerspricht, ist ein Pfahl im Fleische einer Demokratie, ein Infektionsherd, von dem gefährliche Rückwirkungen ausgehen können. Man muß heute nicht nur fragen, wie lange Nordirland sein von der Army nur mühsam gebändigtes Chaos noch aushalten kann. Man muß auch fragen, wie lange es dauert, bis die britische Demokratie, der britische Rechtsstaat, Von der irischen Infektion in Mitleidenschaft gezogen werden.

.Die beiden gefährlichsten Entwicklungen des Jahres 1974 in Nordirland: Einerseits die in den Wahlen vom letzten Februar zutage getretene verstärkte politische Polarisierung anstelle einer Annäherung der Lager, auf die man so große Hoffnungen gesetzt hat. Anderseits die Radikalisierung des protestantischen Lagers, wo die Besonnenen immer mehr ins Hintertreffen geraten und die Militanten immer mehr Terrain gewinnen. Die Rufe der protestantischen Loyalisten nach verstärkten Polizeimaßnahmen gegen die IRA können nicht darüber hiniwegtäu- schen, daß zumindest in letzter Zeit mehr Katholiken als Protestanten den Mordkommandos der jeweiligen anderen Seite zum Opfer fielen.

Anderseits ist es begreiflich, wenn die britischen Soldaten, die von den Katholiken einst, im Jahre 1969, als Retter begrüßt wurden, heute mit ihren Sympathien eher auf der protestantischen Seite stehen. Und dies nicht, weil mehr Protestanten als Katholiken in der Army dienen, sondern deshalb, weil die Heckenschützen, die aus dem Hinterhalt, aus

Fenstern oder von Dächern, auf die britischen Patrouillen feuern, der IRA angehören.

Die IRA wiederum schießt nicht nur auf die Soldaten, weil sie „die Schotten“ haßt, nicht nur, weil sie jeden Soldaten für eine Verbündeten des Gegners hält, nicht nur aus dem Fanatismus, der jeden Kompromiß ablehnt, sondern auch aus dem politischen Kalkül, daß die Frontstellung zwischen Militär und katholischer Bevölkerung, die von der IRA herbeigeführt oder zumindest erheblich verstärkt wurde, dazu führt, daß sie, die IRA, die katholische Bevölkerung in der Hand hat. Auf dem auf diese Weise geschürten Haß der katholischen Unterschicht gegen die Soldaten kocht die IRA ihre ziemlich trübe politische Suppe.

Aber der Fanatismus auf der Gegenseite ist um nichts geringer. Und er schlägt wahlloser und, wenn das überhaupt noch möglich ist, brutaler zu als die IRA — zumindest neuerdings, sprich: seit dem Vorjahr. Während Fememorde und Gasthaus sprengungen nach telephonischer Warnung zu den „Spezialitäten“ der IRA gehören, ist es eine von den Mordkommandos der protestantischen UDA und der mit ihr konkurrierenden Organisationen geübte Methode, aus fahrenden Autos auf die Bevölkerung katholischer Stadtviertel zu schießen. (Allerdings ist auch die Geschichte der IRA nicht gerade arm an völlig wahllos durchgeführten Terroranschlägen.)

Eine weitere Radikalisierung des protestantischen Lagers (mit entsprechenden Reaktionen auf der anderen Seite) ist zu befürchten. Denn eine neue Kraft ist in das protestantische Lager getreten. Enoch Powell, der Rechtsaußen des konservativen England, der auch und gerade von den englischen Konservativen als Halbfaschist abgelehnt wird, hat, da er in England nichts zu bestellen fand, in Nordirland ein neues Tätigkeitsfeld entdeckt und sitzt nun als protestantischer Abgeordneter eines Belfaster Wahlkreises im Londoner Unterhaus. Er wurde von der protestantischen Bevölkerung Nordirlands, vor allem von ihrer radika- lisierten Mehrheit, mit offenen Armen aufgenommen. Für die angestammten, in Nordirland heimischen Radikalen des protestantischen Lagers war er vor allem eine Konkurrenz — er hat denn auch sehr bald seinen Anspruch angemeldet, im Unterhaus als Anführer der kleinen nordirischen protestantischen Abgeordnetengruppe aufzutreten.

Das Resultat war vorauszusehen. Der militante Pastor Paisley und der noch radikalere und müitantere Ex- minister Craig bezogen sofort noch unnachgiebigere Positionen, um von Powell nicht ausgepunktet zu werden.

In diesem Klima ist die Hoffnung auf eine alle Teile zufriedenstellende, oder auch nur für alle Teile annehmbare Lösung auf lupenrein demokratischem Weg gleichbedeutend mit der Hoffnung auf den Sankt Nimmerleinstag. Wilson wie Heath können unmöglich hoffen, das Ulster-

Problem auf diese Weise loszuwerden. Aber jede andere Lösung wäre, wenn überhaupt möglich, so unpopulär, würde auf jeden Fall so breite Schichten verprellen, daß jede Regierung das Nächstliegende tut und das Ulster-Problem vor sich her — und der nächsten Regierung zuschiebt. Leider werden darüber die Fronten nur von Jahr zu Jahr steifer, die Gräben zwischen den Bevölkerungsgruppen tiefer, das kaum lösbare Problem immer schwerer lösbar, womit sich die Nichtlösung immer überzeugender rechtfertigt.

Der konservative Nordirland-Minister Whitelaw hat wenigstens, um der Wahrheit die geringe Ehre zu geben, die ihr zukommt, die politischen Lösungen angestrebt, von denen vorher nichts zu sehen war und auch nachher, in den vergangenen Monaten eines schwankenden Kabinettes Wilson, nur wenig.

Er brachte zwar eine protestantisch-katholische, unionistisch-sozia- listische Koalitionsregierung mit Brian Faulkner an der Spitze und

Gerry Fitt als katholischem Partner auf die Beine, auf denen sich diese Regierung aber leider nur kurze Zeit hielt, ohne einen Schritt vorwärts gehen zu können. In Nordirland stößt heute jede politische Aktion sofort an die Mauern protestantischer Ablehnung selbst der katholischen Minimalforderungen.

Die zwei wichtigsten dieser Minimalforderungen sind gescheitert in diesem Jahre des irischen Unheils. Weder der gesamtirische Rat noch eine Beteiligung- der- katholischen Minorität an der Führung des Landes ist zustandegekommen.

Der gesamtirische Rat ist ein Erbe des konservativen Whitelaw, das der Labour-Nordirlandminister Merlyn Rees nicht in der Rumpelkammer vergessen sollte. Der Allirische Rat ist eine Utopie mit alter Geschichte, was in Irland nur scheinbar eine contradictio in adjecto ist. Allerdings: selbst die gemäßigten Unio- nisten Brian Faulkners, der die Teilnahme an diesem Rat einst gegen die Radikalen seiner eigenen Couleur nicht durchsetzen konnte, sind heute davon abgerückt und wollen von irgendwelchen exekutiven Vollmachten irgendeiner gesamtirischen Körperschaft nichts mehr wissen. Der protestantische uniondstische Fanatismus Nordirlands wittert in jedem derartigen Schritt den ersten Schritt zur Wiedervereinigung der Insel, die der Alptraum der nordiischen Protestanten ist.

Die Alternative zu jeder Entwicklung in Richtung auf die Vereinigung wäre eine Behandlung der nordirischen Katholiken, die diese davon überzeugt, daß sie auch in einem separierten Nordirland eine Zukunft als sozial und politisch gleichberechtigte Individuen haben. Es kann den kompromißlosen Apologeten eines reinen Mehrheitswahlrechtes nicht oft genug gesagt werden (und die FURCHE hat es in den vergangenen fünf Jahren in ungezählten Beiträgen ausgeführt), daß ein Frieden in Nordirland, der diesen Namen verdient, unmöglich ist auf der Basis, daß die protestantischen zwei Drittel der Bevölkerung diese ihre solide Zweidrittelmehrheit ad infinitum dazu benützen, rein protestantische, rein unionistische Regierungen zu bilden und das unterlegene, katholische Bevölkerungsdrittel bis in alle Ewigkeit von jeder Teilnahme an der Macht auszuschließen. Man sollte in London mittlerweile erkannt haben, daß ein solcher Zustand nicht als Demokratie bezeichnet werden kann. Die Tatsache, daß in diesem Land die politischen Gruppierungen mit den religiösen, nationalen, sozialen und teilweise ethnischen Gruppierungen identisch sind, verlangt nach einer diesem Zustand angemessenen Form von Demokratie. Die totale Machtausübung auf Grund der Mehrheitsentscheidung ist es nicht. Wenn es auf der ganzen weiten Welt ein Land gibt, in welchem Demokratie mit Koalition gleichgesetzt werden kann, dann heißt dieses Land Nordirland.

Nun ist die erste und einzige protestantisch-katholische Koalition, die Ulster, unter Whitelaws Druck, zustandebrachte, leider nach wenigen Monaten (und eigentlich gleich nach ihrer Bildung) gescheitert. Enoch Powell, Großbritanniens Rechtsradikaler vom Dienst, hat sein schmetterndes Nein gegenüber jeder Machtteilung mit den Katholiken, jedem „power sharing“, bereits ausgedrückt. Er wird auch weiterhin die radikalste mögliche Position einnehmen, denn er ist ausgezogen, das nordirische protestantische Lager zu führen. Pastor Paisley, der in den letzten Jahren mehrmals Ansätze zur Vernunft gezeigt hat und unter vier Augen ein umgänglicher Mann ist, auf der Kanzel und vor den Massen aber zur demagogischen Hochform aufläuft, hat daraufhin ebenfalls kompromißlos auf diesen Kurs eingeschwenkt (soweit er ihn nicht längst steuerte). Auch Craig warf schnell seinen spärlichen Ballast an politischer Konzilianz über Bord, um mit Powell mitzuhalten.

Es ist Wunschdenken, es ist reinster himmelblauer Illusionismus, in dieser Situation auf das Zustandekommen einer für beide Lager tragbaren Lösung nur aus den politischen Kräften und aus dem politischen System Nordirlands heraus zu hoffen. Wer derlei Hoffnung hegt, lügt oder er ist kein Politiker.

Angesichts der in allen nordirischen Städten patrouillierenden, bis an die Zähne bewaffneten Soldaten, angesichts der Sandsackbarrieren und der gepanzerten Fahrzeuge an allen Ecken, angesichts der mehrwöchigen nächtlichen Verdunkelung in der Stadt Newry, wo die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet werden mußte, um die britischen Soldaten dem Visier der IRA-Heckenschützen zu entziehen — angesichts einer solchen Situation ist die nordirische politische Selbstbestimmung ohnehin eine Fiktion. Es hat zeitweise wenig realen Unterschied ausgemacht, ob gerade eine nordirische Regierung im Amt war oder ob das Land vom Nordirlandminister verwaltet wurde. Man sollte meinen, daß der einzigen Kraft, die heute in der Lage ist, Nordirland vor einem blutigen Chaos zu bewahren, auch zuzumuten ist, daß sie das Land, dessen Status quo sie perpetuiert, auch politisch in die Hand nimmt. Der einzige Weg für die britischen Soldaten heim nach England und Schottland führt über die nordirischen politischen und kommunalen Verwaltungsstellen.

Mit anderen Worten: London — und es ist jetzt völlig gleichgültig, welche Regierung — hatte den Mut, das nordirische Scheinparlament Stormont nach Hause zu schicken und das Land zu verwalten — für einige Zeit. Stormont sollte endgültig nach Hause geschickt werden. Die einzige Chance für die sechs Grafschaften ist eine Direktverwaltung von London aus, unter der Leitung des Nordirlandministers.

Es wäre die Aufgabe dieser Verwaltung, eine in London beschlossene politische Lösung in die Praxis um- zusatzen. Gegen alle, auch gegen die protestantischen Widerstände. Kern dieses Konzeptes müßte eine Beteiligung beider Religionsgruppen an der Verwaltung auf allen, vor allem aber auf den unteren Ebenen sein. Die künftigen politischen Strukturen Nordirlands wären mit den beiden Lagern auszuhandeln, hatten aber letzten Endes das Signet „made in London“ zu tragen.

Freilich, derlei ist unrealistisch. Ein solcher politischer Eingriff, als Gegenstück zum militärischen, wäre vor einigen Jahren leichter gewesen als heute, wäre freilich heute leichter realisierbar als in einigen Jahren. Die Alternativen dazu sind unerfreulich. Entweder militärische Dauerbesetzung oder totale Unterdrückung der Katholiken oder schließlich doch der Abzug der Truppen — mit allem, was diesem Land dann widerfährt.

Und dazu wird es ja wahrscheinlich eines Tages auch kommen.

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