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Kennst du das Lied?

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Als Ambroise Thomas 1896 hochbetagt starb, war sein Hauptwerk „Mignon” an verschiedenen Bühnen mehr als tausendmal aufgeführt worden. Die Premiere hatte 1866 an der Pariser Opera comique stattgefunden. Der Ort der Uraufführung ist wichtig, weil er der Grund für die vier verschiedenen Fassungen des Schlusses von „Mignon” ist. Bei Goethe stirbt das geheimnisvolle, anmutig-schöne Mädchen aus „Wilhelm Meisters Lehrjahren”. Aber in der Opėra comique durfte das nicht sein: Alle hier gespielten Werke mußten happy enden. So mußte Thomas einen anderen Schluß f .-rfinden - oder das vorgesehene Theater aufgeben. Daß er mit dieser Änderung viel Mühe hatte, zeigen die vier Varianten des letzten Aktes, die alle ein wenig unbefriedigend ausgefallen sind.

Was den Stoff betrifft: Es war die £eit der Schwärmerei für die deutschen Klassiker, deren Stücke aber in den Augen der Franzosen hochromantisch ‘varen. Massenets „Werther” und Gounods „Faust” bezeugen es ebenso wie eine ganze Reihe von Schiller- Opem Giuseppe Verdis. Man dürfe beim Anhören der „Mignon” von Thomas nicht an Goethes „Wilhelm Meister” denken. Doch wer kennt den schon? Aber wer sich die Mühe macht, die Mignon-Passagen nachzulesen, der wird sich der Meinung des französischen Komponisten anschließen, daß hier nämlich nicht nur ein Opernstoff, sondern auch ein halbes Dutzend scharf profilierter „hochromantischer” Hauptfiguren vorgegeben waren, die von Thomas als solche erkannt und von seinen Textautoren Barbier und Carrė sehr wirkungsvoll und ohne wesentliche Verfälschung zu einem Libretto benützt wurden. Etwas anderes ist die Rückübertragung ins Deutsche, wobei Mignons Lied „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen” die größten Schwierigkeiten bereitet, die auch dadurch nicht gelöst erscheinen, daß man dem völlig anderen Rhythmus der Musik von Thomas den Originaltext Goethes unterlegt. Auch die Neufassung der Wiener Volksoper (Elly Weiser) ist nicht befriedigend.

Hingegen kann man mit der Interpretation dieser sehr typischen, sehr französischen Musik mit ihren vielen lyrischen Glanzpartien, mit ihren feinen Detailschüderungen und den recht kräftig ausgespielten dramatischen Momenten sehr wohl zufrieden sein. Die Rollenbesetzung mit hauseigenen Kräften war ebenso befriedigend wie die Ausstattung. Daß dieser Abend überhaupt zustande gekommen ist, haben wir Vor allem Artur Korn zu verdanken, der trotz schwerster Indisposition die wichtige Partie des harfespielenden Vaganten Lothario bis zum bitteren Ende durchhielt. (Aber wozu haben wir da die in den Mitteilungsblättern der Bundestheater angegebene Doppelbesetzung, in diesem Fall Emst Gutstein?)

Doch beginnen wir mit den Hauptpartien. Elisabeth Steiner, ein’ typischer Mezzosopran, den diese Partie verlangt, war in Spiel, Gesang und Ausdruck gleichermaßen überzeugend. Auch ihre Gegenspielerin Philine, von Patricia Wise gesungen und agiert, erfordert etwas recht Seltenes, nämlich einen dramatischen Koloratursopran. Das Brillant-Dramatische gelang Frau Wise besser als die halsbrecherischen Koloraturen. Adolf Dallapozza war in der Rolle des jungen, feurigen Wilhelm Meister recht angenehm anzuschauen, doch im Spiel ein wenig zurückhaltend. Sein Tenor hatte an diesem Abend nicht das schöne Timbre, das wir von früheren Aufführungen im Ohr haben. In weiteren Partien: der bereits erwähnte Artur Korn, Peter Drahosch als Laertes, Hans Kraemmer als böser Jarno, Walter Jennewein und Wolfgang Zimmer.

Die vier schönen BühnenbiTder schuf der Schweizer Toni Businger, der vielen von den Bregenzer Festspielen bekannt ist. Beim ersten, den Hof eines deutschen Wirtshauses darstellend, erschrak man ein wenig. War das nicht aus den von Otto Schenk ausgestatteten „Meistersingern”, jenem nur teilweise geglückten Zehnmillionending? Aber bereits das folgende Bild, „Boudoir im Schloß”, zerstreute unsere Sorgen, und die beiden letzten (Schloßpark und Villa in Italien, ein wenig an Palladio erinnernd) gehörten zum Schönsten, das wir in letzter Zeit sahen. Und welche Wohltat: eine helle, gutausgeleuchtete Bühne (Wilhelm Kreihsl)l Die vielen, mit exquisitem Geschmack entworfenen und hergestellten Kostüme danken wir Businger und Alice Maria Schlesinger.

Der stets durchsichtigen, aber wirkungsvollen Partitur von Thomas hätten wir eine feinere Hand gewünscht, als die von George Singer. Aber einstudiert war die Musik tadellos. Daß zahlreiche Stellen recht hart klangen, lag vor allem an der ausgesprochen schlechten Akustik des Saales, auch nach den Verbesserungen. Fast hätten wir die Inszenierung durch Spyros Evangelatos vergessen: so unaufdringlich-richtig war sie! Das gilt auch von der Balletteinlage, einem von Gerhard Senft effektvoll choreographierten Zigeunertanz, von Elisabeth Stelzer, Lotte Blau, Helli Swoboda und einigen weiteren Damen des Volksopernballetts temperamentvoll ausgeführt.

Dem Publikum hat die seit 1931 nicht mehr gezeigte „Mignon” so gut gefallen, daß man künftig das alte Lied vom mißbrauchten Goethe nicht mehr hören wird. Hoffentlich!

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